Landkarten des Lebens
heißer Tag, an dem wir über staubige Pisten in ein Dorf etwa 30 Kilometer von Kaolack fuhren. Schwester Christine hatte uns angekündigt, die Dorfgemeinschaft wartete auf uns unter einem riesigen Baum, der als einziger weit und breit wohltuenden Schatten spendete. Vor uns saßen etwa 100 Frauen und Mädchen am Boden, viele hatten Babys an der Brust, hinter uns saßen die muslimischen Männer des Dorfes auf Plastikstühlen, alle in ihre langen Kaftane gekleidet und die Daumen drehend. Nach langatmigen Begrüßungen, in denen wir uns gegenseitig der Freude und Dankbarkeit versicherten, dass wir uns füreinander Zeit nahmen, sollte ich eine Rede halten. Auf Französisch wandte ich mich an die Dorfgemeinschaft, während ein junger Mann meine Worte in die Landessprache Wolof übersetzte.
Mit großen Augen aus ihren tiefschwarzen Gesichtern hörten sie mir zu, wie ich sie – nach erneutem Dank, dass wir sie besuchen durften – zu Respekt gegenüber den Frauen des Dorfes aufforderte. Es sind die Frauen, die in Afrika die Arbeit machen. Sie müssen aus praktisch nicht vorhandenen Vorräten Mahlzeiten zubereiten, kehren den Staub vor der Hütte, kümmern sich um die Kinder und versuchen zum Beispiel mit der Herstellung von Bonbons etwas Geld zu verdienen, um nicht in weitere Nöte zu geraten. Das beschrieb ich ihnen und die Herren des Dorfes antworteten immer wieder mit einem „Waaoo, waaoo“, was sich wie „Wau, wau“ anhört und „Ja, ja“ meint. Schließlich erlaubte ich mir, den Herren zu sagen, dass es auch ihnen besser gehe, wenn es ihren Frauen besser ginge – und ich glaube, sie haben verstanden, wie ich das meinte. Es war eine unglaubliche Begegnung.
Natürlich kann man nun einwenden, dass viele der Begegnungen, die missio schafft, nur ein Tropfen auf den heißen Stein seien. Aber ich meine, jedes Bemühen um ein friedliches und solidarisches Miteinander hat seinen Wert und trägt dazu bei, dass die weißen Flecken auf unserer Landkarte immer weniger werden – im eigentlichen wie im übertragenen Sinne.
Es werden sicher weiterhin weiße Flecken auf unseren Lebenslandkarten bleiben. Uns allen sind Grenzen gesetzt – in Bezug auf die Zeit oder die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen. Aber ich versuche, mir den Blick für den Nächsten zu bewahren, ob in Afrika oder gleich nebenan. Und ich möchte Mut machen, es auch einmal zu versuchen. Wer von sich selbst absieht, entdeckt mehr, als er momentan vielleicht ahnt. Die biblische Botschaft der Bergpredigt – Barmherzigkeit und Gerechtigkeit – kann die Welt verändern.
Rainer Wälde
Heilige Orte: Ich bin mit mir im Reinen
Langsam ruckelt die voll besetzte Zahnradbahn von Zermatt auf den Gornergrat hinauf. Nach und nach offenbart sich uns die grandiose Bergwelt des Wallis. Mit jedem Meter, mit jedem Zahnrad, das sich in die Zahnstange einhakt, werde ich aufgeregter. Neben mir sitzt Ilona. Und uns gegenüber mein 87-jähriger Vater und meine „zweite Mutter“ Inge, die mein Vater nach dem Tod meiner Mutter geheiratet hat. Wir sind unterwegs, um einen großen Lebenstraum meines Vaters zu erfüllen: Seit 70 Jahren will er das Matterhorn sehen. Und das wird heute sein. Vater und Sohn gemeinsam unterwegs – für mich fühlt es sich so an, als seien wir zwei kleine Jungen, die sich auf den Weg zu einem großen Abenteuer machen. Wir sind beide beseelt von einer immensen Freude und einem kaum noch in Schach zu haltenden Glücksgefühl – das auch davon getragen wird, dass heute, an diesem Pfingstsonntag, zum ersten Mal seit Wochen die Sonne scheint und die Luft so klar ist, dass die Berge direkt vor unserer Nase zu stehen scheinen.
Wir fahren zuerst durch Wälder, durch Tannenhaine, dann werden die Bäume immer weniger, der Schnee höher und die Luft spürbar dünner. Und auf einmal ist es so weit: Wir sind auf dem Gornergrat – 3.089 Meter hoch! Wir steigen aus der Zahnradbahn und gehen ein paar Schritte, wir kommen schnell aus der Puste. Mein Vater verträgt das aber erstaunlich gut und wir gehen hinüber zur Aussichtsterrasse und schießen erst einmal ein paar Gipfelfotos. Andächtig und glücklich steht mein Vater da und betrachtet das Matterhorn. Niemand von uns sagt mehr etwas. Wir sind alle ergriffen von diesem einzigartigen Berg, der in diesen unfassbar blauen Himmel ragt. Alles glitzert und flimmert. Es ist ein ganz besonderer Moment, der so nicht wiederkommen wird – das spüren wir alle. Und er schweißt uns zusammen, dieser
Weitere Kostenlose Bücher