Landkarten des Lebens
unserer Nase befinden – nämlich mitten in der eigenen Wohnung.
Als Ilona und ich heirateten und zusammenzogen, ging es uns so wie vermutlich vielen Paaren, die sich erst im mittleren Alter finden: Jeder von uns hatte einen kompletten Hausstand mit Möbeln, Geschirr, lieb gewordenen Dingen, Sachen, an denen wir hingen, geerbte Antiquitäten, die zwar nicht unbedingt die schönsten, dafür aber mit wertvollen Erinnerungen versehen waren. Diese beiden Haushalte nun zu vereinigen, war schwieriger als gedacht. Ilona und ich konnten uns beispielsweise nicht einigen, ob in unserem Wohnzimmer nun meine moderne Schrankwand oder das alte Büffet stehen sollte, das Ilona von ihrer Tante geerbt hatte und das ihr so viel bedeutete. Ich hing aber auch an meiner Schrankwand! Schließlich war sie flott, modern, der Lack glänzte so schön, außerdem war sie praktisch und eben einfach meine Schrankwand, die ich noch gar nicht so lange hatte und auch noch eine ganze Weile behalten wollte. Weil wir uns aber nicht einigen konnten, ließen wir eben beide Schränke nebeneinander im Wohnzimmer stehen. Schrankwand neben Büffet, alt neben neu, Lack neben Weichholz. Es war kein sehr erbaulicher Anblick, das können Sie mir glauben. Jeder Einrichtungsspezialist hätte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.
Ein Jahr lang ging das so. Doch irgendwann hörte ich einfach auf das Herz meiner Frau – und verkaufte die Schrankwand. Von diesem Moment an hörten wie durch ein Wunder die Auseinandersetzungen unseres ersten Ehejahres auf. Ich merkte, dass ich durch einen Ablösungsprozess gegangen war – ich hatte Abschied genommen von meinem früheren Leben und konnte mich nun voll und ganz auf den neuen Lebensabschnitt mit Ilona einlassen. Dass ich meine Schrankwand verkaufte, kam deshalb von Herzen. Es hatte nichts mit klein beigeben zu tun.
Dieses Buffet ist heute unser heiliger Ort in der Wohnung. Es ist so etwas wie ein Ankerplatz. Als wir vor vier Jahren das erste Mal auf Iona waren, brachten wir von dort ein keltisches Kreuz mit. Es steht heute ebenso auf dem Buffet wie eine große Kerze. Wir haben zwei Stühle davor gestellt und gerade an Tagen, die besonders hektisch sind, nehmen wir uns ganz bewusst Zeit, setzen uns vor das Büffet, werden still und beginnen so den Tag miteinander. Wir sprechen die alten Gebete der iro-schottischen Mönche, die mit diesen Worten schon vor 1.500 Jahren beteten. So machen wir unser Wohnzimmer mit dem alten Büffet zu einem Platz der Stille, der Andacht, der Verbindung mit Gott. Auch ein Freund von mir hat sich zu Hause einen solchen heiligen Ort geschaffen: Es ist ein schöner und bequemer Lesesessel in einem Erker. Jeden Morgen setzt er sich eine viertel Stunde in diesen Sessel und liest in der Bibel oder in einem anderen Buch, manchmal betet er auch und trifft sich dort mit Gott.
Begegnungen mit unserem Schöpfer – ich habe in meinem Leben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass gerade die Orte eine heilige und ganz besondere Ausstrahlung haben, an denen sich Menschen jahrhundertelang zum Gebet versammelt haben und dies vielleicht immer noch tun. Kirchen gehören ganz sicher dazu. Aber auch Inseln wie Iona, die vor der schottischen Westküste liegt. Schon seit dem 5. Jahrhundert gibt es dort eine Abtei, die 1938 wieder aufgebaut wurde und heute die Iona Community beherbergt. Es ist eine Gemeinschaft, die neue Wege finden will, Glauben zu leben: mit Jugendarbeit, neuen Liedern und Gottesdienstformen und ihrem Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Schon als Ilona und ich das erste Mal nach Iona reisten, spürten wir sie, diese besondere Atmosphäre. Es herrscht eine unglaubliche Ruhe dort, denn Iona ist autofrei, man ist also von jeglichem Verkehrslärm ganz unbehelligt. Zu hören sind Wind und Wellen, und zu spüren ist ein ganz bestimmter Geist, eine ganz besondere Energie –erzeugt dadurch, dass sich so viele Menschen, die über die Jahrhunderte hinweg dort hingereist sind, gemeinsam auf ein bestimmtes Ziel ausrichten: den Dialog mit ihrem Schöpfer.
Ich bin zutiefst überzeugt: Um einen heiligen Ort erfahren und erleben zu können, muss man abschalten und zwar im wahrsten Sinn des Wortes. Handy, Smartphone, Computer – je mehr Kommunikationsgeräte ich ausschalte, desto empfangsbereiter werde ich für meine innere Stimme und für die Stimme Gottes. Wenn meine vielen Kommunikationsgeräte statt meiner selbst auf Empfang sind, dann habe ich Mühe, innerlich auf Empfang zu sein. Ich
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