Landkarten des Lebens
Papst Benedikt XVI. zu begleiten. Er meinte, dass der Papst stärker auf ihr Anliegen aufmerksam würde, wenn ich dabei wäre. So flog ich also mit den beiden nach Rom.
Wie immer waren im Audienzsaal sehr viele Menschen versammelt und warteten auf den Papst. Mitten unter ihnen war in der ersten Reihe China Keitetsi, eine Schwarze mit einem großen Kreuz aus Gewehrläufen und dem Anliegen, dass die Welt sich stark machen möge gegen den Einsatz von Kindersoldaten.
Der Papst erblickte China und sagte zu ihr: „I know you, I read a lot about you, I pray for you.“ Anschließend gab es zwischen den beiden ein inniges Gespräch. Auch Pater Schalück begrüßte er, denn die beiden kannten sich vom Studium. Monsignore Gänswein, der Privatsekretär des Papstes, stand die ganze Zeit dabei und fragte mich: „Hat der Heilige Vater Sie überhaupt gesehen?“ Ich antwortete ihm: „Ich glaube nicht, aber das ist jetzt auch nicht wichtig.“ Daraufhin lächelte er freundlich und drückte mir einen Rosenkranz in die Hand, natürlich nicht wissend, dass er eine Protestantin vor sich hatte. Diese Begebenheit zeigt, dass es im Leben oft anders kommen kann als man denkt. Es stellte sich heraus, dass meine Anwesenheit an jenem Tag in Rom ziemlich unwichtig war – und trotzdem war es ein wichtiger Tag für mich. Es ist einfach unvergesslich, die Faszination zu spüren, die der Papst in der aufgeregt versammelten Menschenmenge auslöste. Und auch ich konnte mich dieser Begeisterung kaum entziehen. Ob das im weitesten Sinne mit der Kraft des Glaubens zu tun hat?
Und die Geschichte des Rosenkranzes geht sogar noch weiter: Neulich kam mein Sohn in mein Arbeitszimmer und erkundigte sich nach der Geschichte des Rosenkranzes. Wir redeten über das brutale Leben der Kindersoldaten und die Gewalt, die ihnen angetan wird. Von diesem Gespräch angerührt sprach er aus sich heraus ein kleines, freies Kindergebet. Das sind die besonderen Momente im Alltag. Momente, in denen plötzlich mitten im Leben ein heiliger Raum entsteht.
Seit jenem Tag in Rom erinnert mich der Rosenkranz immer wieder an das Schicksal der Kindersoldaten. Zurzeit gibt es weltweit immer noch geschätzt 220.000 von ihnen. Zum Glück geht die Zahl zurück, weil der Einsatz von Kindersoldaten nun seit Jahrzehnten international geächtet wird. Hier kann journalistische Arbeit im Übrigen einen Beitrag leisten. Indem über Kindersoldaten berichtet wird, erfahren sie Aufmerksamkeit und Interesse. Die Gewalt, die ihnen angetan wird und die sie gezwungen werden auszuüben, bleibt nicht mehr im Geheimen, sondern kommt über Zeitungsreportagen und Filme aus der Ferne afrikanischer Wälder in europäische Wohnzimmer.
Deshalb war ich froh, in Rom die Gelegenheit zu haben, China Keitetsi mit der Kamera begleiten zu können und über ihr Schicksal in einem Magazinbeitrag zu berichten. Sie berichtete mir von ihrer Kindheit in einem kleinen Dorf in West-Uganda und dass auch sie als Kind zu schrecklichen Gräueltaten gezwungen und mehrfach vergewaltigt wurde. Ganz jung bekam sie zwei Kinder, natürlich von verschiedenen Männern. Diese beiden Babys musste sie dann irgendwo unterwegs zurücklassen. Sie hat viel Leid erfahren. Leid, das sich kaum in Worte fassen lässt. Aber sie hat es geschafft. Sie konnte fliehen und ein neues Leben beginnen. Über das katholische Hilfswerk missio hat sie ihre Kinder schließlich nach vielen Jahren der Suche wiedergefunden. Irgendjemand hatte eine vage Ahnung, dass in Johannisburg in der Nähe einer Polizeistation eine Familie lebte, die ein kleines Mädchen aufgenommen hatte, das aus jenem Dorf stammte, an das sich China erinnern konnte. Das Mädchen, das die Familie aufgenommen hatte, war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre alt. Weil eine kanadische Schwester ihrem Schicksal nachging, konnte herausgefunden werden, dass es sich tatsächlich um die Tochter von China Keitestsi handelte. Heute lebt China mit ihrer Familie in Dänemark und hat gerade ein drittes Kind bekommen. Zum ersten Mal kann sie Mutterschaft richtig leben und ist überglücklich.
Was einen Platz in unserem Leben zu einem heiligen Ort macht, ist schwer zu sagen. Aber es gibt sie, solche Orte. In Gedanken gehe ich manche Wege immer mal wieder: zum Waisenhaus der Ordensschwestern in Nkandla - dem Ort in der Mitte des Nichts, an dem die Nächstenliebe so konkret Gestalt gewinnt, und zur Gotthard Kapelle im Mainzer Dom, in dem seit Jahrhunderten Menschen ihrem Glauben Ausdruck verleihen.
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