Landleben
schließlich Philadelphia, aber hier hieß sie Mifflin
Avenue, nach dem streitsüchtigen ersten Gouverneur des
Keystone-Staats. Drei Meilen in die andere Richtung lag
Alton, eine Stadt mittlerer Größe – Alton mit seinen Fa-
briken aus schwarz gewordenen Backsteinen unmittelbar
zwischen den Reihenhäusern, seinen Eisenbahngleisen,
die das Stadtzentrum zerschnitten, seinem Rotlichtvier-
tel, Pussy Alley genannt, seinen mit Eternit verkleideten
Eckbars, seinen Lichtspielpalästen von pseudoislamischer
Pracht und seinen lauten, miesen Restaurants. Sein Va-
ter nannte sie «Wucherlokale». Sein Vater mochte es gar
nicht, wenn er auswärts essen musste, er mochte es nicht,
bedient zu werden, vor allem nicht von Männern, die in
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der Regel, so empfand er es, besser bezahlt und aggres-
siver waren als Kellnerinnen, er mochte kein aufwendi-
ges Restaurantessen, das er manchmal, als Zeichen seiner
Verachtung, wieder von sich gab, er mochte keine Nach-
speisen, keine Mehrwertsteuer, keine Trinkgelder. Owens
Mutter, immer übergewichtig, außer in den frühesten
Erinnerungen ihres Sohnes, liebte gutes Essen und saß
verschüchtert und aufbegehrend am Tisch, während ihr
Mann ihr systematisch die Freude verdarb. So wenigstens
schien es ihrem einzigen Kind, das das Ehedrama aus be-
schränktem Blickwinkel betrachtete: Obwohl sein Haar so
stumpf und unaufregend braun war wie das seines Vaters –
und so fein, dass es sich aufrichtete, wenn sie die Mütze
abnahmen oder in der Nähe eines Ventilators saßen –, galt
seine Sympathie immer der Mutter mit ihrem kastanien-
roten Haar. Doch seines Vaters Angst, plötzlich kein Geld
mehr zu haben, nistete sich tief in ihm ein und nagte an
ihm. Vielleicht war es kein Zufall, dass die Wanderung
seines Lebens ihn in nordöstliche Regionen führte, in
ein Gebiet s
e
teinig n, kargen Bodens und des knauserigen
Umgangs mit Geld.
In Pennsylvania lagen die aus Sandstein gebauten Gast-
häuser – Keime von Ortschaften, von denen manche ge-
diehen und sich ausdehnten, während andere zu einem
armseligen Häufchen verkamen – in einem Abstand von
etwa drei Meilen, die Entfernung, die man in einer Stunde
zu Fuß zurücklegen oder die ein Pferdegespann an einem
Sommertag einen beladenen Wagen ziehen konnte, bevor
die Pferde getränkt werden mussten. Das Leben auf den
Farmen bestimmte noch die Zeit. Die alten Leute mach-
ten in der Mitte des Tages ein Nickerchen. Auf der Straße
verkauften die Nachbarn einander Spargel, Bohnen und
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Tomaten, die sie in ihren Gärten gezogen hatten, und die
Mifflin Avenue mit ihrer hohen Kuppe, die bewirkte, dass
das Regenwasser im Rinnstein rauschte, hallte morgens
wider von dem trägen Hufeklappern der Pferde, die Wa-
gen zu dem eine halbe Meile entfernten Markt jenseits der
Durchgangs Straße, der Alton Pike, zogen; die hatte in der
Mitte Straßenbahnschienen. Als Owen 1933 zur Welt kam
und, in Ermangelung eines anderen Zuhauses, in das Haus
seines Großvaters in Willow gebracht wurde, war Roosevelt
noch frisch im Amt, und der Ort, benannt nach einem rie-
sigen alten Baum direkt neben dem Gasthaus, dessen Wur-
zeln ihr Wasser aus dem Creek bezogen, der sich in Rich-
tung Philadelphia schlängelte, war als Bezirk eingemeindet
worden. Neue Straßen, parallel zur Mifflin Avenue, waren
entstanden – Second Street, dann Third Street und Fourth
Street kletterten einen Hügel hinauf, den die Kinder im
Winter auf fest gepresstem Schnee mit Schlitten hinun-
terfuhren, um dann über die abgesperrten Kreuzungen
zu donnern, bis die Fahrt unter flirrenden Funken auf ei-
nem Bett aus Asche endete – städtische Arbeiter hatten sie
von einem Lastwagen geschaufelt. Die Funken, der feste
Schnee, die Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern den
ganzen Weg zur Schule hin – all dies dauerte nur ein paar
Tage, eine Unterbrechung des trüben, nasskalten Winters,
aber es begründete Erinnerungen, die das ganze Jahr hin-
durch anhielten und in der virtuellen Ewigkeit eines Kin-
des die Zeit vorantrieben.
Das warme Wetter dauerte von März bis Oktober. Dunst
legte sich über Willow. Von Owens kleinem Zimmer mit
den holzgetäfelten Wänden und dem einen Bücherbord
blickte man auf ein unbebautes Grundstück, wo er oft mit
den anderen Kindern aus der Nachbarschaft spielte, in der
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Stunde nach dem Abendessen im Sommer, in milchigem
Zwielicht; das lange Gras war stachlig, drauf und dran,
sich
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