Landleben
dem Rasierer den
kitzligen seitlichen Strich zu machen. Er versucht sich
zu rasieren, ohne sein Gesicht zu sehen, das niemals das
Gesicht gewesen ist, das er sich gewünscht hätte – zu viel
Nase, nicht genug Kinn. Eine einladende Schwäche und
dennoch eine scharfäugige Wachsamkeit. In letzter Zeit zie-
hen Falten die Mundwinkel herunter, und die Augenlider
sind schrumplig wie bei einem Wüstenreptil, sodass sich
morgens die Falten verfangen und an den Wimpern hängen
bleiben. Er hasst das ihm vertraute Gefühl, etwas im Auge
zu haben, das sich nicht fassen lässt, aber stört. Pollen. Eine
Wimper. Ein geplatztes Äderchen. Hinter ihm, durch die
isolierende Wand des Waldes, künden Motorengeräusche,
Fehlzündungen und das Piepen rückwärts fahrender Last-
wagen von dem kümmerlichen, ein oder zwei Blöcke um-
fassenden Geschäftsviertel von Haskells Crossing; es ist
hörbar, aber nicht sichtbar von seinem Haus in der grünen
Verschwiegenheit auf der Anhöhe. Obwohl er die Lichter
der Stadt von den oberen Fenstern im Haus deutlich sehen
kann, hat er in der Stadt nie einen Punkt gefunden, von
dem aus sein Haus sichtbar wäre. Das e
g fällt ihm, es ist wie
sein Bewusstsein – unsichtbar, aber im Mittelpunkt.
Als Kind hatte er angenommen, dass die Welt irgendwie
durch sein Erwachen in Bewegung gesetzt wurde. Was pas-
sierte, ehe er aufwachte, war wie die Zeit vor seiner Geburt,
eine Leere, über die er nicht nachdenken konnte. Es über-
rascht ihn immer, wie früh in kleinen und ebenso in großen
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Städten die Morgenaktivitäten beginnen, nicht nur bei den
sprichwörtlichen, Würmer pickenden Vögeln, sondern auch
bei den Menschen – die Pendler, die den Zug um 6.11 Uhr
erreichen müssen, der Besitzer der Obsthandlung in der
Stadt, schon zurück vom Großmarkt beim Callahan-Tun-
nel mit seinem Lastwagen, die jungen joggenden Mütter,
die ihre Meilen schon hinter sich haben, wenn sie mit ihren
Kindern an der Bushaltestelle stehen, die Taugenichtse der
Stadt, die schon auf der Bank am Kriegerdenkmal Posten
bezogen haben, dort, neben dem alten Backsteinbau der
Feuerwache, auf der anderen Seite der Hauptstraße und
gegenüber der Bäckerei. Der Bäcker, ein schlecht rasierter
Frankokanadier mit seiner von zu vielen Zigaretten einge-
sunkenen Brust, ist schon seit vier Uhr auf und verbreitet
in der kalten Luft das Aroma von backenden Croi s
s ants,
Zimtbrötchen und Blaubeer-Muffins.
Owen sieht das alles vor seinem geistigen Auge, wäh-
rend er den Rest der Rasierseife abschabt und dabei sein zu
kleines Kinn vorstreckt, um die schlaffen Falten darunter
zu straffen. Die Feuerwache, wenn Sie es wissen wollen, ist
ein mit Ornamenten versehenes Gebäude aus dem neun-
zehnten Jahrhundert und fast zu schmal für den modernen
Feuerwehrwagen, den die Stadtältesten von Cabot City,
wovon Haskells Crossing ein Außenbezirk ist, kürzlich er-
worben haben. Nach jedem Notruf, der sich gewöhnlich als
falscher Alarm entpuppt, stößt der Wagen unter aufgereg-
tem Piepen rückwärts in seine Bucht, von der an den Seiten
nur wenige Zentimeter übrig bleiben. Das Kriegerdenkmal
ist eine verlängerbare Reihe von Namen in beweglichen
weißen Lettern auf einer schwarzen, mit Schlitzen verse-
henen Tafel hinter Glas: die Toten von Haskells Crossing
bis zurück zu den Kriegen gegen die Franzosen und die In-
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dianer. Die größte Gruppe fiel im Bürgerkrieg, die nächst-
größte im Zweiten Weltkrieg. Unter dem Koreakrieg (zwei
Namen) und der Intervention in Vietnam (vier) und der
Aktion gegen den Irak 1991 (ein einziger Name, ein ge-
meiner Soldat, der durch ein Versehen erdrückt wurde, als
er half, auf dem saudi-arabischen Militärflughafen Jabayl
einen schweren M1A1 Abrams-Kampfpanzer von sieben-
undsechzig Tonnen aus dem Rumpf eines Cargo-Flugzeu-
ges vom Typ C-5 Galaxy zu entladen) ist noch reichlich
Platz für künftige Opfer künftiger Konflikte – vernünftige
neuenglische Sparsamkeit: Owen schätzt sie. Er hat hier
seine endgültige Kleinstadt gefunden.
Die erste lag in Pennsylvania: die Gemeinde Willow,
viertausend Einwohner, ein «Straßendorf», das beim Über-
gang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert
aus einem am Weg gelegenen Gasthaus hervorging, um-
geben von Feldern, auf denen Mais und Tabak angebaut
wurden. Die Straße, die über fünfundvierzig Meilen ei-
nem in südöstlicher Richtung fließenden Fluss folgte, er-
reichte
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