Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
Vom Netzwerk:
auszusäen. Fungo, Dosenwerfen, Touch Football: Die
    Mädchen spielten alles mit, denn in der Nachbarschaft
    gab es mehr Mädchen als Jungen. Einmal fand Owen in
    dem struppigen, flachen, vom Tau nassen Gras – denn es
    war Herbst, und die Schule hatte wieder begonnen – seine
    Brille in dem braunen Etui mit dem Schnappverschluss,
    die ein paar Tage vorher verschwunden war. Gefunden! Er
    hatte überall im Haus gesucht, und seine Mutter hatte ihm
    anvertraut, welch ein Kummer es für seinen armen Vater
    wäre, wenn er eine Ersatzbrille bezahlen müsste. Es war
    ein Wunder, so kam es dem Kind vor, als es sich bückte
    und das Etui in die Hand nahm, feucht von den Tagen
    und Nächten, in denen es geduldig darauf gewartet hat-
    te, dass der Junge es fände. Drinnen, ja, da war die Gold-
    randbrille, die sein Sehvermögen schärfte, mit den kleinen
    bohnenförmigen Plättchen, die Abdrücke auf seiner Nase
    hinterließen, und den gebogenen Metallbügeln, die hinter
    seinen Ohren drückten. Als man ihm in der zweiten Klasse
    gesagt hatte, dass er zum Lesen und im Kino eine Brille
    tragen müsse, hatte er geweint. Eines Tages, so tröstete er
    sich, würde er aus der Brille herauswachsen. Vielleicht war
    es kein ganz richtiges Wunder, dass er sie gefunden hatte,
    denn er benutzte den diagonalen Weg durch das Unkraut
    jeden Tag, wenn er zu Buddy Rourke ging, seinem Freund
    aus der Klasse über ihm, damit sie zusammen zur Schule
    gingen, abseits von dem Mädchenschwarm aus der Second
    Street. Buddy hatte keinen Vater, wodurch er merkwürdig
    und etwas beängstigend war. Er war launisch, und seine
    Augenbrauen wuchsen in der Mitte zusammen. Er hatte
    glattes, borstiges Haar, das nach vorn abstand, und einen
    20
    Mund, der nie lächelte, wegen der Zahnspange, einem
    glänzenden Metallbügel mit einem Silberviereck in der
    Mitte eines jeden Zahns. Owen wollte zurücklaufen und
    seiner Mutter sagen, dass er seine Brille gefunden habe
    und dass sein Vater nicht für eine neue bezahlen müsse,
    aber er wollte auch nicht zu spät zu Buddy kommen, und
    so hastete er weiter, und das gefundene Etui machte die
    Tasche seiner Knickerbocker feucht, sodass die Haut an
    seinem Oberschenkel kribbelte.

    Von derselben Seite des Hauses, jenseits des unbebauten
    Grundstücks, hörte Owen an einem anderen Morgen den
    Knall eines Schusses. Er hatte noch geschlafen. Es war, als
    wäre er in dem Moment aufgewacht, bevor er wie in einem
    Traum den Knall, der ihn weckte, gehört hatte. Er hatte
    genügend Gangsterfilme gesehen, um das Geräusch explo-
    dierenden Schießpulvers zu kennen, aber im Film hörte
    man es in Wellen von Maschinengew
    f
    ehr euer,
    r
    wäh end
    dies ein einzelner, einsamer Knall war.
    Auch seine Eltern hatten es gehört, denn sie regten sich
    in ihrem Schlafzimmer, hinter der geschlossenen Tür, und
    die beiden Stimmen, männlich und weiblich, verwoben
    sich und verstummten dann wieder. Es war draußen nicht
    mehr ganz dunkel, die Bäume im Garten waren als Silhou-
    etten erkennbar, ihre Formen ragten in das gleichmäßig
    graue, zum Himmel hin leicht gelblich braune Licht, bevor
    die Vögel zu zwitschern anfingen. Die Straßen waren still,
    kein Verkehr, nicht einmal ein Farmfahrzeug. Später hörte
    er eine Sirene, und noch später die Nachricht, von seinem
    Vater beim Frühstück berichtet – er hatte auf der Straße
    schon die Neuigkeit in Erfahrung gebracht –, dass ein jun-
    ger Mann im Haus der Hoffmans, zwei Häuser hinter dem

    21
    Haus neben dem unbebauten Grundstück, sich mit einem
    Armeerevolver, einem Colt .38, den Wes Hoffman aus sei-
    ner Zeit im Großen Krieg aufbewahrte, erschossen hatte.
    Danny Hoffman war noch nicht zwanzig, aber bei einem
    Sommerlager hatte ein Kind, das unter seiner Aufsicht
    stand, einen Kopfsprung ins flache Wasser gemacht und
    sich das Genick gebrochen, und das Verantwortungsgefühl
    hatte Danny verfolgt, obwohl es schon im vorigen Sommer
    passiert war. Er war nie wieder derselbe gewesen, er blieb
    im Haus und hörte sich Hörspielserien im Radio an und
    hatte aufgehört, sich Arbeit zu suchen.
    Das war also die Erklärung. In den zwölf Jahren der De-
    pression und des Zweiten Weltkriegs, also von 1933 bis 1945,
    war es das dramatischste Ereignis in Owens Nachbarschaft.
    Die Frau auf der anderen Straßenseite, Mrs. Yost, hatte
    in ihrem vorderen Fenster eine Flagge mit fünf Sternen,
    aber alle fünf Soldatensöhne kehrten in bester Verfassung
    zurück. Skip Potteiger

Weitere Kostenlose Bücher