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Landleben

Landleben

Titel: Landleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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auch wenn er zu einem
erbärmlichen, übel riechenden, nicht funktionierenden
Krüppel wird.
    Ohne sich die Zeit zu nehmen, zu urinieren oder sich
die Zähne zu putzen, macht Owen sich auf die Suche nach
ihr. Sie ist nicht oben im Fernsehzimmer und auch nicht
an ihrem Schreibtisch im Gästezimmer. Panik breitet sich
flatternd und flippend in seinem Magen aus. Auch in der
Küche ist sie nicht, in die er über die hintere Treppe ge-         langt, leise, barfuß, der neue Teppich schmiegt sich weich
und federnd an seine Sohlen. Der Fernsehapparat, in dem
gewöhnlich der Wetter-Kanal, ihr Lieblingsprogramm,
funkelt, ist leer, ein todlangweiliges Grüngrau. Der Ruf
«Julia!» steigt in seiner Kehle auf, als ein Rascheln von
Papier offenbart, dass sie unten ist, in der Bibliothek. Sie
hockt auf dem roten Sofa, isst Joghurt aus dem Plastikbe-
cher und liest die New York Times. Ihre blauen Flip-Flops
ruhen auf der Kante des Couchtischs, und die Unterseiten
ihrer Schenkel werden von ihrem kurzen Nachthemd und
dem offenen Bademantel freigegeben. Er lässt sich in den
Sessel ihr gegenüber fallen, mit der Erleichterung eines
Reisenden, der den Weg aus der Wüste heraus gefunden
hat. Das panische Kitzeln in seinem Magen lässt nach. Aus
seinem Blickwinkel sehen die Zehen in ihren Flip-Flops
wie zwei Ketten rosiger Kreise aus. Die Muskeln in ihren
auf der Tretmühle gestählten Beinen spielen umeinander
wie geschmeidige Delphine. Er staunt, wie stark ihn ihre
Schönheit immer noch trifft, als sie unter ihren geschwun-
genen schwarzen Brauen den Blick ihrer weit auseinander
stehenden aquamarinblauen Augen auf ihn richtet, die
Lippen leicht vom Joghurt glänzend. Ihre Lippen sehen
niemals taub oder erstarrt aus, sondern immer entschlos-
sen, fest, an den Rändern markant, auch ohne Lippenstift.
    «Nimm diese absurde Mütze ab», sagt sie.
    Seit sein Haar schütter wird, ist es ihm zur Gewohnheit
geworden, im Bett eine Wollmütze zu tragen, bis weit in
den Frühling hinein. Seine Mutter hatte das im hohen Al-
tet auch gemacht. Selbst an heißen Sommerabenden ver-
misst er diese Umhüllung seines Schädels und greift darauf
zurück, wenn er schlecht schläft.
    Gehorsam entfernt er das Anstoß erregende Objekt,                 stopft es unter die Armbeuge seines vom Schlaf zer-
knautschten Pyjamas, streckt, in freundlichen Gedanken
an die Füße seiner Frau, seine nackten Füße nach ihren
aus und legt sie auf den Chippendalestuhl auf der ihm zu-
gewandten Seite des Couchtischs. Eine Vorfahrin von Julia
aus Wethersfield hat einst die leider stark verblasste Crew-
elstickerei des Polstersitzes angefertigt.
    «Und nimm deine schmutzigen Füße von meinem an-
tiken Stuhl», sagt sie, in aufrichtiger Empörung, wie es
scheint, und dieselbe Empörung lässt sie mit ihrem leeren
Joghurtbecher vom Sofa hochschnellen und durch den Flur
zur Küche gehen.
    Er trottet hinter ihr her, halbherzig protestierend: «Sie
sind sauber. Sie sind nackt.»
    «Und warum», fragt sie mit mühsam beherrschter Stim-
me, ohne sich zu ihm umzudrehen, «hast du nie gelernt,
dir die Haare zu kämmen? Es war was anderes, als du noch
volles Haar hattest und es braun und weich war, da konnte
man es als süß durchgehen lassen, aber jetzt ist es einfach
nur ein hässlicher kleiner weißer Mopp auf deinem Kopf.»
    «Ich bin gerade erst aufgestanden», protestiert er, «und
war auf der Suche nach dir. Ich wollte mir nicht erst die
Haare kämmen.»
    Als er klein war, in Willow, wurde sein Haar nur vor der
Sonntagsschule und nach dem Haareschneiden gekämmt,
und niemand hatte daran etwas auszusetzen. Oder hatte
seine Mutter etwas gesagt? Er versucht sich zu erinnern,
und eine schwache, kratzige Erinnerung kommt ihm, an ei-
nen Kamm, der über seine Kopfhaut harkt, vielleicht seine
Mutter, die sich ungehalten um seine Haare kümmert, be-
vor sie ihn mit der Horde Mädchen aus der Second Street
zur Schule schickt. Noch heute fürchtet er den Zorn in der  Berührung seiner Mutter, obwohl sie seit über zehn Jahren
tot ist.
    In der Küche dreht Julia das Fernsehgerät an, und ein
Wetter-Mann, jung, mit buschigem Schnurrbart und extrem
schlaksig – große Menschen sehen im Fernsehen nicht gut
aus –, rückt mit seinem weißen elektronischen Zeigestock
immer ein bisschen zu weit vor, sodass der Lichtfleck über
Ohio zittert und kritzelt, während der Mann beschreibt,
wie eine Hochdruckzone durch den Staat New York nach
Neuengland

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