Landleben
im Schritt.
In dem Zimmer ihres Bruders hatte sich Owen im vergan-genen Jahr manchmal von ihrem Gerangel am Rande des
Geschlechtsverkehrs entfernt und aus dem Gaubenfenster
geguckt, auf das schwindlig machende Auf und Ab der Dä-
cher von Cambridge und auf die schmalen Gärten hinter
den Häusern mit ihren rostigen Grillgeräten auf kleinen
Backsteinterrassen oder angebauten Holzveranden, und
er hatte die gemeinschaftliche Stärke gespürt, den kollek-
tiven Stolz. Er war privilegiert, diesen erhabenen Zugang
zu der hölzernen Stadtlandschaft zu haben – so viele reich
gefüllte herrschaftliche Wohnhäuser, erbaut auf dem Fleiß
Denkender und Gelehrter. Auf dem Weg über eine der
dazugehörenden jungen Frauen hatte er sich einen Platz
darin erworben, einen Platz am Goodhues’schen Mahagoni-
esstisch, wo man mit dürrem Klatsch und, in diesen Tagen
des bösen Joe McCarthy und des sorglosen Ike, mit libe-
raler Empörung verköstigt wurde. Doch Owen fühlte sich
keineswegs voll dazugehörig – er war praktisch, das hatte
Phyllis von Anfang an gespürt, und im Vergleich zu ihrem
Vater ungeschliffen. Es war ein bestimmtes Ethos, das sich
in diesen mit Gauben besetzten Dächern ausdrückte, in
diesen unzähligen goldenen Fenstern, die Einblick ge-
währten auf voll gestellte Bücherregale, verblichene Per-
serteppiche, auf Küchen, wo Töpfe mit Kupferböden und
gesteppte Topflappen die Wände zierten, auf Badezimmer,
die mit Titelblättern des New Yorker tapeziert waren, auf
schmale, ungemachte Studentenbetten: Er konnte das al-
les bewundern, er konnte dort sogar einheiraten, aber er
würde es nie zu seinem machen. Er war groß und sehnig,
er lächelte oft und entblößte dabei die schiefen, anfälligen
Zähne eines Jungen, der fern von dieser sich selbst in Eh-
ren haltenden Kleinstadt aufgewachsen war.
Ihre erste gemeinsame Wohnung in Cambridge, in der sie die sechs Monate lang lebten, bis er zum Militärdienst
eingezogen wurde, war nicht etwa in einem der oberen
Stockwerke, sondern im Souterrain eines Backstein-Miets-
hauses in der Concord Avenue, wo man in Augenhöhe auf
ein mit Buchsbaum und Myrte, Berberitze und Steinmis-
pel bestandenes schattiges Fleckchen bückte. Die dicht
bepflanzte Stelle, von der Straße nicht einsehbar, war ein
Rendezvousplatz für Katzen, Schlafzimmer und Toilet-
te in einem. In diesem Sommer und in der noch lang an-
haltenden Wärme des Herbstes mussten die jungen Ma-
ckenzies, in Ermangelung einer Klimaanlage, nachts ihr
unvergittertes Fenster offen stehen lassen, und mehr als
einmal erwachte Owen davon, dass ein dickbackiger gel-
ber Kater, den sie Uncle Ugly Cat genannt hatten, schnur-
rend auf seiner Brust saß, die blauen Lippen so nahe an
Owens Gesicht, dass der Geruch von ranzigem Fischtran
ihm Übelkeit erregte. Phyllis, zum ersten Mal, seit er sie
kannte, unentschlossen und launisch, driftete durch ihren
Kurs in Wahrscheinlichkeit (Kombinationslehre, Zufallsva-
riable, Markow’sche Ketten, Gesetze großer Zahlen, Wahr-
scheinlichkeitsrechnung) und tastete weiter nach einem
Thema für ihre Doktorarbeit, vermochte aber in dem wei-
ten Wirrwarr erschlossener Mathematik kein mit Formeln
beackertes Feld zu finden, das sie zu ihrem machen konn-
te; unterdessen rang Owen als schlecht bezahlter Lehrling
am Harvard Computation Laboratory, im Zwielicht des
schwerfälligen Mark I, mit einem simplen Programmie-
rungssystem, dem so genannten A-O-Compiler, und mit
den Komplikationen der Datenspeicherung auf Festplat-
ten, einer Neuerung, die die Geräte bald von Programmen
auf unhandlichen Lochkarten oder auf Spulen mit Magnet-
band befreien sollte. IBM hatte den ersten kommerziellen Computer, den 701, schon an Ministerien und Forschungs-
institute verkauft. Diese Entwicklungen eröffneten Visio-
nen von zunehmend komplizierteren Funktionen auf win-
zigen, geschichteten Schaltkreisen, von einem abstrakten
Verfahren, das nicht nur exponentiell schneller und glat-
ter war als menschliches Denken, sondern einspurig, ein
Funken, der in den algorithmischen Schleifen herumsaus-
te, bis er an der programmierten Dezimalstelle ankam, wo
die praktische Äquivalenz bestimmt wurde – ein sauberer,
blitzschneller Vorgang und das glatte Gegenteil weit ver-
zweigten menschlichen Denkens, dieses Dunstes aus un-
berechenbaren Faktoren, ob sie nun emotional, egoistisch
oder sinnlich waren.
In ihren zwei dunklen, feuchten Souterrainräumen, de-
ren kleine Fenster auf ein begrüntes
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