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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Strafe wäre milder ausgefallen, möglicherweise sehr viel milder. Im Gefängnis hörte ich, dass einige Angeklagte in ähnlichen Prozessen sogar mit einer Bewährungsstrafe davongekommen seien, weil sie so viel plauderten. Ich hatte geschwiegen, ich wollten keinen reinreißen, aber dass Bernhard mich nun einfach links liegen ließ, verübelte ich ihm. Nach einiger Zeit sagte ich mir, dass ich ganz allein der Schuldige sei, schließlich wäre ich nicht Bernhards wegen bei den Republikfluchten eingestiegen, und dass ich nach der Verhaftung der Gruppe aussteigen wollte, stimmt zwar, wegen des Geldes habe ich aber schließlich weitergemacht. Und ich hätte mit oder ohne Bernhard weitergemacht, also konnte ich ihn vergessen undmusste mir nicht weiter einreden, er sei der Schuldige. Ich allein war der Idiot.
    Ich war bereits über ein Jahr im Gefängnis, als ich damit begann, mir Bücher aus der Bibliothek auszuleihen. Ich kam durch einen älteren Mann darauf, der schon vierzig war und sich Lehrbücher auslieh, um Spanisch zu lernen. Anfangs regte er mich auf, weil er in unserer kleinen Zelle auf und ab ging und die spanischen Worte murmelte, fortwährend auf und ab und immerzu dieses Gemurmel, doch dann begriff ich, dass er die Zeit besser zu nutzen verstand als ich. Ich meldete mich bei dem Kerl, der die Bibliothek machte und verlangte englische Lehrbücher für Anfänger. Was ich erhielt, war ein dünner Pappband. Ich begann mit den Zahlen, es war für mich schwer, die Aussprache zu lernen. In dem Buch wurde immer auf die dazugehörigen Schallplatten verwiesen, der Bibliotheksmensch lachte nur, als ich ihn nach den Schallplatten fragte. Als ich wissen wollte, warum man einen Schallplattenkurs gekauft habe, wenn es im ganzen Gefängnis gar keinen Plattenspieler gebe, lachte er und sagte, darüber solle ich einmal nachdenken. Als ich ihn ein zweites Mal fragte, erwiderte er, der Direktor habe sicher einen Plattenspieler, und ihn komme es billiger, wenn er sich seine Bücher und Platten über die Gefängnisbibliothek kommen lasse, zumal alle Bestellungen von ihm kontrolliert werden. Der ältere Kollege half mir bei der Aussprache, aber zwischen uns kam es bei dem kleinsten Anlass zu einem Streit, und so versuchte ich allein zu lernen. Da ich überhaupt nicht vorankam, gab ich die Sprache auf und bestellte mir andere Bücher, die einzigen zwei Bücher der Bibliothek über Autos, auch Romane. Ich las sogar alles das, was ich in der Schule hätte lesen sollen und nie getan hatte, ich lernte drei lange Gedichte auswendig und sagte sie laut auf, wenn es mir besonders schlecht ging. Eins davon, die Bürgschaft von Schiller, kann ich noch heute vollständig aufsagen. Damals hätte ich mirgewünscht, dass man mir irgendetwas in die Zelle schickt, so einen kleinen Luxus wie ein Buch, das einem ganz allein gehört. Daran dachte keiner und Bernhard auch nicht. Vielleicht hatte er Angst, nachträglich gefasst zu werden und wollte jeden Umgang mit mir und den anderen vermeiden. Später hörte ich, dass er in Guldenberg Tischler sei. Er musste nach meiner Verhaftung die Berlinfahrten sofort aufgegeben haben und wieder in seinen alten Beruf zurückgekehrt sein. Ich habe ihn nie wieder gesehen, denn nach Guldenberg kehrte ich nicht zurück. Ich habe es meinen Eltern übel genommen, dass sie mich während meiner Haftzeit abgeschrieben hatten. Ich bin nicht zur Beerdigung von ihnen gefahren, auch nicht zu der meiner Mutter.
    Ein einziges Mal hat mich jemand im Gefängnis besucht. Ich erfuhr am Vortag davon. Am nächsten Tag, sagte der Schließer, würde meine Verlobte kommen, und da ich nie Besuch hatte, schaute er mich dabei neugierig an. Ich ließ mir nichts anmerken, gar nichts. Ich dachte mir schon, dass es nur Gitti sein kann. Sie kam in einem kurzen Rock, ich konnte ihre Oberschenkel sehen, und das war alles, woran ich später dachte, wenn ich mich an ihren Besuch erinnerte. Ihre Oberschenkel und Wilhelm, denn den hatte sie mitgebracht. Gitti lebte allein, sie hatte keinen neuen Freund gefunden, was mich nicht verwunderte, wer will schon eine Frau mit einem schwarzen Kind.
    Wilhelm ging bereits in die erste Klasse und war ein hübscher strammer Kerl geworden. Gitti hatte irgendwie erreicht, dass sie ihn in den Besuchsraum mitbringen durfte, obwohl das nicht erlaubt war. Er saß die ganze Zeit auf dem Stuhl und sah mich ununterbrochen an, ohne eine Miene zu verziehen oder ein Wort zu sagen. Wenn ich ihn anredete, schaute er weiterhin

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