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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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stumm und ernst zu mir und reagierte überhaupt nicht, ich verstand es. Er gefiel mir, der kleine Wilhelm. Wenn ich bei ihm geblieben wäre, ich hätte ein völlig anderes Leben gehabt und wäre nie ins Gefängnisgekommen. Aber das war mir unmöglich, das hätte ich nicht geschafft. Wenn diese dumme Person mich mit irgendjemandem betrogen hätte, ich hätte es nie gemerkt, und das Kind wäre immer meins gewesen. Und selbst wenn ich es eines Tages erfahren hätte, ich glaube, ich wäre bei dem Kind und seiner blöden Mutter geblieben, denn der Junge gefiel mir. Ich weiß bis heute nicht, wo Gitti diesen Schwarzen aufgetrieben hatte, denn in Naumburg und in der ganzen Umgebung gab es keinen einzigen Neger damals. Jeden Morgen, jeden Tag und jeden Abend einen Jungen mit einer Pigmentverschiebung vor mir zu haben, dessen Vater ich sein sollte, das hätte ich nicht geschafft. Dann musste es eben das Gefängnis sein.
    Nach der Entlassung, und ich hatte jeden Tag abzusitzen, ging ich nach Leipzig und bekam dort innerhalb von zwei Tagen eine Wohnung, und auch um eine Arbeitsstelle als Automechaniker kümmerte sich die Behörde. Die Frau vom Stadtbezirksamt ließ mich zwar spüren, was sie von mir hielt, ihre Arbeit machte sie jedoch ordentlich. Die Wohnung, die ich bekam, war klein, sie hatte ein Bad und eine eingebaute Küche, und die Werkstatt war die größte von ganz Leipzig, da war es nicht weiter von Belang, dass ich aus dem Knast kam. In einer Frühstückspause in der ersten Woche fragten mich die Kollegen danach, und ich erzählte ihnen meine Geschichte. Und als ich dann sagte, ein paar Jahre Gefängnis, das kann jedem leicht passieren, hat nicht einmal der Meister widersprochen, und einige haben sogar genickt.
    Ein paar Jahre lang war ich auf der Suche nach meinem Wagen. Wenn irgendwo in der Republik ein Oldtimer-Treffen war, ein Rennen oder eine Ausstellung, bin ich hingefahren. Meinen Adler hätte ich erkannt, und wenn er in der Zwischenzeit umgespritzt und sonst wie umgebaut worden wäre. Ich hätte ihn auf den ersten Blick erkannt. Von dieser großen Sechs-Fenster-Limousine gab es wohl nur zweiExemplare im ganzen Land, jedenfalls tauchten bei diesen Treffen immer diese beiden Adler auf, die zwei Deppen gehörten mit viel Geld, aber ohne jedes Verständnis für diese Autos, jedenfalls hätte ich mich geschämt, meinen Wagen in einem solch erbärmlichen Zustand auszustellen. So etwas tut man einem Auto nicht an, wenn man es wirklich liebt.
    Mein Adler war und blieb verschwunden. Und vielleicht ist das gut so für mich, denn ich weiß nicht, was passiert, wenn ich eines Tages auf einer der grünen, für die Ausstellungen abgesperrten Wiesen erscheinen und meinen Wagen entdecken sollte. Vielleicht würde ich dem neuen Besitzer an die Kehle gehen oder mich mit ihm prügeln. Ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um meinen Adler wiederzubekommen. Ich würde dem Mann Geld bieten, so viel, wie er will, oder ihm besorgen, was immer er sich wünscht, um meinen Adler zurückzubekommen. Und wenn er auf nichts eingeht, vielleicht würde ich ihn dann umbringen. Schließlich ist es mein Auto, es ist mein Baby.

Katharina Hollenbach
    Ich ging zusammen mit meiner Schwester nach Guldenberg. Zu Hause hatte ich schon mit acht Jahren gesagt, dass ich nicht auf dem Hof bleiben werde, sondern etwas von der Welt sehen will. Damals hat meine Mutter über mich gelacht und Vater den Kopf geschüttelt und mich zum Ausmisten der Hühner oder der Karnickel geschickt, wenn ich davon sprach. Ich hatte es mir ganz fest vorgenommen, jeden Abend sagte ich mir, dass ich nach der Schule aus Spora verschwinde. Ich wollte nicht in der Landwirtschaft arbeiten, und einen Bauern heiraten kam für mich schon gar nicht in Frage. Ich sah ja, wie es meiner Mutter ging. Sie hatte geglaubt, sie hätte sich hochgeheiratet, weil sie meinen Vater bekam, der Hoferbe war. Aber was sie davon hatte, war nichts als Plackerei. Erst war sie so etwas wie eine bessere Dienstmagd bei ihren Schwiegereltern, meinen Großeltern, denen der Hof gehörte, und die von ihrem Sohn und dessen Frau unentwegt Dankbarkeit verlangten und jede Menge Arbeit, weil sie ihnen irgendwann den Hof überlassen wollten. Und als Großvater sich aufs Altenteil zurückzog, blieb er mit seiner Frau weiter auf dem Hof und hörte nicht auf, alle herumzukommandieren, auch meine Mutter. Sie hatte nie Feierabend. Auf einem Bauernhof gibt es keinen Feierabend.
    Als junges Mädchen hatte sie

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