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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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in unsere Stadt gekommen. Es gab ein einstündiges Bombardement, dann war für Guldenberg der Krieg fast vorbei, und die Feuerwehr und die Einwohner konnten die Brände in ihren Häusern löschen. Darüber hinaus hatte Guldenberg sieben gefallene Soldaten zu melden, diese Familien hatten mehr zahlen müssen als die anderen Einwohner, und für sie war der Krieg gewiss schrecklicher als alle Zeit davor und danach. Aber nach dem Krieg kamen die Flüchtlinge, erst die Ausgebombten aus den Nachbargemeinden und den Städten in der Nähe und nach ihnen die Vertriebenen, und das hörte überhaupt nicht auf. Noch Mitte der fünfziger Jahre kamen Umsiedler und verlangten Wohnraum und Arbeit und Lebensmittelmarken, obwohl Guldenberg selbst nichts hatte. Die Ausgebombten verließen irgendwann die Stadt, sie blieben ein paar Monate, und nur sehr wenige wohnten länger bei uns, bevor sie wieder in ihre Heimatstadt gingen. Die Vertriebenen jedoch blieben, und jeder wusste, sie würden nie wieder gehen, jedenfalls nicht freiwillig, weil sie keine Heimat mehr hatten. Und mit den Vertriebenen veränderte sich das Leben in unserer Stadt, da hatten Beuchler und die anderen nicht Unrecht. Man kannte sie nicht. Man wusste nicht genau, woher sie kamen, wie sie früher lebten, was bei ihnen erlaubt und verboten war. Vielleicht machte man in Pommern und Schlesien mit Versicherungen für Brand und Naturkatastrophen sein Geld, wie einige bei uns behaupteten, ich weiß es nicht.
    Als Haber bemerkte, dass wir alle zu ihm sahen, lächelte er verlegen, legte die Kugel in die Ablage zurück und kam zu uns an den Tisch. Er nahm sein Bier auf, trank einen Schluck, stellte das Glas auf den Tisch zurück und sagte: »Schlagt euch das aus dem Kopf. Ich war es nicht. Undwenn jemand etwas dazu zu sagen hat, sollte er es hier sagen. Mir ins Gesicht.«
    Alle schwiegen, und Haber sah reihum und jedem so lange in die Augen, bis dieser den Blick abwandte.
    »Schön«, sagte er schließlich, »dann sind wir uns einig.«
    »Keiner von uns unterstellt dir ...«, begann ich, doch Haber unterbrach mich.
    »Es gibt Schlimmeres«, sagte er, »meinem Vater wurde nicht nur die Werkstatt abgefackelt. Er wurde ermordet.«
    »Er wurde nicht umgebracht«, erwiderte Parlitzke scharf, »er hat sich aufgehängt, dein Vater.«
    »Weißt du das genau? Und der Mordanschlag? Nur einen Monat zuvor?«
    »Das war ein Unfall, das hat die Kripo festgestellt. Deinem Vater ist ein Kantholz auf den Kopf gefallen. Mit einem Arm, da kann das passieren. Und dass dein Vater geglaubt hat, ihm habe jemand das Holz über den Kopf geschlagen, ist verständlich. Würde mir auch so gehen. Aber es war ein Unfall.«
    »Und warum hat die Polizei seinen Tod so lange untersucht? Diesen angeblichen Selbstmord?«
    »Weiß ich nicht. Ist Vorschrift bei Selbstmord, hörte ich. Wenn du hier geblieben wärst, vielleicht wäre es nicht passiert.«
    »Vielleicht. Wie auch immer. Aber in dieser Stadt gibt es nicht nur einen Brandstifter, hier lebt ein Mörder.«
    »Red keinen Unsinn, Bernhard. Dein Vater kam nicht mehr zurecht und hat sich den Strick genommen. Das war kein Mord.«
    »Es war kein Strick. Es war eine Drahtschlinge, Erhard. Eine Drahtschlinge wie damals. Es ist lange her, ich ging noch in die Schule, da wurde mein Hund umgebracht. Auch mit einer Drahtschlinge. Und ich bin davon überzeugt, da könnt ihr reden, was ihr wollt, es war das gleiche Schwein, das meinen Vater ermordet hat.«
    »Weißt du, wer mit Drahtschlingen arbeitet? Die Zigeuner. Hast du mal darüber nachgedacht?«
    »Er hat Recht, Bernhard, und Zigeuner essen Hundefleisch, das weiß jeder.«
    »Mein Hund wurde nicht aufgefressen. Man hat ihn umgebracht. Er wurde erdrosselt und so hingelegt, dass ich ihn finde. Und damals kamen die Zigeuner noch nicht in unsere Stadt.«
    »Aber vielleicht bei deinem Vater.«
    »Nein, mein Lieber, da bist du auf der falschen Fährte. Die Polizei hat in der Richtung genau untersucht, denen wäre es lieber gewesen, einen Zigeuner zu finden. Doch da war nichts. Mein Vater hatte nichts mit den Zigeunern zu tun, überhaupt nichts. Was sollten sie gegen ihn haben. Er war Umsiedler, nicht wahr, und das war fast genau dasselbe. Zigeuner oder Umsiedler, da hat die Stadt keinen großen Unterschied gemacht.«
    »Haber, verlauf dich nicht.«
    »Nein. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass in unserer wunderschönen Stadt unter all den braven Bürgern und lieben Nachbarn ein Brandstifter und ein Mörder

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