Landnahme
weder von dir noch von irgendeinem anderen.«
Bei seinen letzten Worten ließ er den Blick über die Klasse streifen und funkelte uns an, als ob irgendeiner von uns angedeutet hätte, etwas Ähnliches zu äußern. Dann drehte er sich zu Fräulein Nitzschke um und sagte selbstzufrieden: »Schön und gut, Sie können jetzt mit dem Unterricht fortfahren, Frau Kollegin.«
Er warf nochmals einen prüfenden und grimmigen Blick über die Klasse, forderte Bernhard auf, sich zu setzen, und ging zur Tür. Bernhard sah mich an, als er sich langsam auf den Sitz zurückgleiten ließ. In seinem Gesicht war nichts zu erkennen, kein Zeichen von Scham oder Reue, auch nicht die Andeutung eines Triumphes, obwohl er durchgehalten und nicht nachgegeben hatte, denn das bißchen Kopfnickenzählte nicht, das konnte der Direktor nicht ernsthaft als eine Entschuldigung werten. Bernhard hatte vor der ganzen Klasse den Direktor besiegt, er hatte den Kampf gewonnen, und wir alle hatten es miterlebt. Trotzdem verzog Bernhard keine Miene, obwohl er eben sensationell gewonnen hatte. Er tat, als habe er mit alledem nichts zu tun. Als der Direktor die Tür erreichte, drehte er sich zu Bernhard um und sagte halblaut, als spräche er zu sich: »Der Kerl gehört über das Knie gelegt. Aber von einem, der mit zwei gesunden Armen zupacken kann.«
Dann öffnete er die Tür und verließ unser Klassenzimmer. Alle in der Klasse hatten seinen Satz gehört. Bernhards Gesicht wurde plötzlich ganz weiß.
»Auge um Auge«, stieß er hervor, »Drahtschlinge für Drahtschlinge.«
Fräulein Nitzschke erstarrte und schüttelte sich kurz, als habe sie sich fürchterlich erschreckt.
»So, dann wollen wir mal wieder«, sagte sie, lächelte bemüht und klatschte in die Hände.
Ich weiß nicht, ob sie Bernhards laut gezischte Bemerkung nicht gehört hatte oder es vorzog, sie stillschweigend zu übergehen. Zehn Minuten später ertönte die Pausenklingel, und wir rannten auf den Schulhof, um das Ereignis zu diskutieren und über Bernhard zu reden und seinen Sieg über den Direktor, und über den kleinen blassen Herrn Engelmann, der der Meinung war, er sei an unserer Schule ein Kapitän der Weltmeere. Bernhard stand mit den Umsiedlerkindern aus den siebenten Klassen zusammen, sie lehnten sich gegen das geschlossene Kirchentor, das auf der gegenüberliegenden Seite den Schulhof begrenzte, aßen ihre Pausenbrote und unterhielten sich. Ich war sicher, dass er den anderen Umsiedlern nichts von seinem soeben errungenen Erfolg vermeldete, jedenfalls machte es nicht den Eindruck, dass er stolz davon berichtete. Wie immer sprach er wenig und blieb gelassen. Vielleicht bedeutete es ihmnichts, grandios den Direktor besiegt zu haben, vielleicht war er einfach uns allen überlegen.
Auch in die neue und größere Wohnung, in der er sicherlich ein eigenes Zimmer besaß, lud er nie einen Mitschüler ein. Wenn es unumgänglich war, dass einer von uns ihn aufsuchen musste, weil er krank war und jemand ihm die Hausaufgaben mitteilen oder nach dem Ende des Unterrichts eine dringende Nachricht überbringen musste, öffnete er die Wohnungstür einen Spalt, sagte, er komme sofort, verschloss dann die Tür, um nach einigen Minuten mit seiner Joppe zu erscheinen, und ließ sich, während er den Besucher die Treppe hinunter begleitete, erzählen, was zu berichten war. Gab es etwas zu notieren, setzte er sich auf eine Treppenstufe und schrieb alles mit seiner ungelenken Schrift auf einen Wisch, den er aus einer der Taschen seiner Joppe angelte. Er legte so großen Wert darauf, keinen in seine Wohnung zu lassen, dass es uns allen auffiel. Wir fragten uns, ob er überhaupt ein eigenes Bett besaß. In den Jahren nach dem Krieg gab es keine reichen Leute bei uns, doch wenn auch das Elend allgemein war, es gab eine Armut, für die man lediglich Verachtung aufbrachte.
Der Tischler blieb jedenfalls in der Stadt, und Bernhard besuchte weiterhin meine Klasse. Als ich in die achte Klasse kam, trennten sich unsere Wege, denn er musste die Siebente wiederholen und ich blieb nur noch ein Jahr auf der Grundschule und wechselte dann auf die Oberschule in Eilenburg, so dass ich jeden Wochentag zweimal eine Stunde mit der Bahn fahren musste und erst am späten Nachmittag und manchmal am Abend wieder daheim ankam. Ich hatte keine Zeit, um irgendjemanden von den alten Freunden zu treffen, geschweige denn Burschen wie Bernhard, mit denen mich nichts verband.
Vier Jahre lang fuhr ich in die Kreisstadt, und in
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