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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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und starrte unentwegt auf seine Schuhe.
    »Na los! Wir warten. Und wir warten so lange, bis du es uns sagst.«
    Es war ganz still in der Klasse, und alle sahen zu Bernhard, der reglos neben seinem Platz stand und den Kopf gesenkt hielt. Es schien ihm überhaupt nicht peinlich zu sein, im Mittelpunkt des Interesses zu stehen, er wirkte überhaupt nicht nervös, eher unbeteiligt.
    »Na? Höre ich etwas?« Der Direktor legte eine Hand hinter das Ohr, er begann zu schwitzen.
    »Nun rede schon, Bernhard. Sag es endlich«, mischte sich Fräulein Nitzschke erneut in das Gespräch. Sie sah Bernhard fast flehend an und warf immer wieder einen besorgten Blick auf den Direktor.
    Bernhard stöhnte vernehmlich, dann sah er die Lehrerin an, presste die Lippen zusammen und schien geduldig auf das zu warten, was kommen würde.
    »Wenn du dich nicht entschuldigst, Junge, wenn du das schlimme Wort nicht zurücknimmst, werde ich dich von der Schule verweisen. Das muss ich tun, das ist meine Pflicht. Und was das bedeuten würde, weißt du. Deine Eltern müssten dich bei einer anderen Schule anmelden, in Eilenburg oder sonstwo, du müsstest jeden Tag mit dem Bus fahren oder mit der Bahn. Und vielleicht wird dich die andere Schule nicht aufnehmen, Gründe dafür gibt es genug. Unter Umständen musst du sehr weit fahren, vielleicht so weit, dass du in ein Schülerheim kommst, in ein Internat, und dann kannst du lediglich in den Ferien deine Eltern sehen. Das solltest du dir überlegen, mein Junge. Und zwar auf der Stelle.«
    Der Direktor betrachtete Bernhard mit sorgenvollem Gesicht, dann warf er einen Blick zu unserer Lehrerin, die nervös ihr Taschentuch zusammenknüllte. Er wirkte jetzt so hilflos, als habe er und nicht Bernhard sich für eine Schandtat zu verantworten.
    »Ich werde dir keinen Tadel erteilen, Junge, nicht einmal eine schriftliche Rüge, aber allein deshalb, weil das mit einem Tadel nicht aus der Welt geschafft ist. Das war eine Morddrohung, mein lieber Junge. Und wenn ich das ernst nehmen würde, wenn ich nur eine Sekunde glauben würde, es sei so gemeint, wie du es gesagt hast, dann müsste ich jetzt die Polizei informieren und den Staatsanwalt, verstehst du.«
    Überraschend nickte Bernhard, er sah jedoch nicht auf. Der Direktor war erleichtert, dass der Übeltäter endlich eine Reaktion zeigte und forderte ihn wiederum zu einer Entschuldigung auf. Bernhard stand ungerührt neben mir und machte keinerlei Anstalten, den Wunsch des Schuldirektors zu erfüllen. Langsam wurde es in der Klasse unruhig, man flüsterte miteinander, einige erregten sich über die Uneinsichtigkeit und Starrköpfigkeit von Bernhard, andere teilten den Schulkameraden mit, dass sie mit dem bisherigen Verlauf der Unterrichtsstunde zufrieden seien und hofften, dass Bernhard nicht zu schnell nachgeben würde. Fräulein Nitzschke und der Direktor schienen die leise Unruhe nicht zu bemerken, beide starrten gebannt auf Bernhard Haber, immer wieder schoben sie ihre Köpfe ein Stück nach vorn, als wollten sie ihm dadurch behilflich sein, den Mund zu öffnen und die geforderte Entschuldigung endlich auszusprechen.
    Ich sah zu Bernhard hoch, der gleichmütig neben unserer Bank stand. Ich bewunderte ihn. Ich war nicht so stark wie er, ich könnte nicht stundenlang neben der Bank stehen und irgendetwas verweigern, worauf die Lehrerin, der Direktor und die ganze Klasse nun schon eine Ewigkeit warteten. Ichwusste, ich hätte längst klein beigegeben und den verlangten Satz von mir gegeben, gleichgültig, ob ich es meinte oder nur dahinsagte.
    Auf der Stirn des Direktors hatten sich winzige Schweißperlen gebildet, sie netzten die Haut über seinen Augenbrauen. Er biss sich auf die Unterlippe, und wir konnten geradezu sehen, wie er nachdachte, wie er sich bemühte, mit Bernhard fertig zu werden oder zu einem Ende zu kommen, ohne seine Autorität zu verlieren.
    »Junge, Bernhard«, sagte er schließlich, »dir tut es Leid, nicht wahr? Du bedauerst es, dass du diesen dummen Satz gesagt hast? Du bereust, dass du ihn ausgesprochen hast und entschuldigst dich bei deinen Mitschülern? Einverstanden?«
    Bernhard nickte kurz, so knapp, dass man es kaum sehen oder für eine unwillkürliche Bewegung seines Kopfes halten konnte, der Direktor schien damit zufrieden zu sein.
    »Nun, das freut mich, mein Junge«, sagte er aufatmend, »das freut mich wirklich. Und damit ist der ganze unangenehme Vorfall aus der Welt geschafft, und ich will niemals wieder so etwas hören,

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