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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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den Ferien machte ich mit den beiden neuen Freunden von der Oberschule Radwanderungen. Einmal waren wir siebenWochen ununterbrochen unterwegs und radelten durch ganz Bayern. In dieser Zeit waren wir nur an vier Tagen nicht mit dem Hintern auf dem Sattel, als wir nämlich die Räder bei dem Onkel eines Schulkameraden unterstellen konnten, der ein Bauerngehöft im Bayerischen Wald besaß. Unseren geplagten Gesäßen ging es in diesen vier Tagen nicht besser, ganz im Gegenteil, denn an diesen Tagen saßen wir in zwei Faltbooten, die uns dieser Onkel bei einem Nachbarn ausgeliehen hatte, und bemühten uns mit aller Kraft auf der Menach voranzukommen ohne umzukippen, was uns stromaufwärts wie -abwärts an keinem Tag gelang, so dass wir die Nächte in durchnässten Zelten verbringen mussten. Für mich gab es keinen Anlass, Bernhard nach der gemeinsamen Schulzeit nochmals wiederzusehen, zumal ich nach dem Abschluss der Schule und dem Abitur zum Studium nach Berlin ging und selten nach Hause kam. Bei den kurzen Besuchen meiner Eltern hörte ich gelegentlich etwas von ihm, aber lediglich das, was Vater und die Schulfreunde, mit denen ich Kontakt hatte, erzählten. Ich sprach Bernhard nie mehr. Aber miteinander gesprochen haben wir in den zwei Jahren, die wir auf einer Schulbank saßen, eigentlich nie, Bernhard wollte es nicht. Wenn ich etwas zu ihm sagte, nickte er oder schüttelte den Kopf, und allein wenn es unumgänglich war, knurrte er eine kurze Antwort.
    Ein einziges Mal hatte ich ein längeres Gespräch mit ihm. Im vierten Winter, den er in unserer Stadt lebte, traf ich ihn an einem späten Nachmittag an den Rangiergleisen. Ich kam vom Klavierunterricht von Frau Lorentz, der Inspektorenwitwe, die in dem kleinen Haus an der Steinlache wohnte. Frau Lorentz bekam seit dem Kriegsende keine Witwenpension mehr ausgezahlt. Ihr Mann, hieß es nun, habe dem alten Regime gedient und hätte sich, wenn er nicht im dritten Kriegsjahr an einem Herzinfarkt gestorben wäre, nach der Befreiung verantworten müssen und wäre gewiss zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Sehr vielmehr habe ich darüber nie erfahren. Vater winkte ab, wenn ich ihn fragte, und sagte, damals sei eben viel passiert, und heute sei eine andere Zeit, in der man nun plötzlich alles anders sehe. Manche hätten Glück gehabt und andere nicht, und die müssten für etwas bezahlen, das sie nicht zu verantworten hätten. Jedenfalls konnte sich Frau Lorentz nicht mehr monatlich im Rathaus ihr Geld abholen wie früher, weil ihr Mann im Staatsdienst gewesen und gestorben war, jetzt bekam sie stattdessen eine winzige Rente, und um zu überleben, musste sie Stunden geben, Klavier und Englisch und Stenografie. Ich ging einmal die Woche zu ihr, hatte mich auf den runden Hocker vor ihrem Flügel zu setzen und ihr vorzuspielen, was ich daheim geübt hatte. Sie saß auf einem Stuhl dicht neben mir, so dicht, dass ich ihr Parfüm riechen musste. Spielte ich falsch oder nicht rasch genug, legte sie ihre Hände über meine und drückte meine Finger auf die Tasten. Zufrieden war sie nie mit mir, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich jeden Tag stundenlang daheim am Klavier sitzen und üben können. Einmal im Monat, immer am ersten Donnerstag, überbrachte ich ihr das Geld. Ich bekam von Mutter einen verschlossenen Briefumschlag, der mit den Randstreifen von Briefmarkenbögen zusätzlich verklebt war und in dem das Geld für die Unterrichtsstunden steckte, die Frau Lorentz mir und meinem Bruder gab. Es waren jeden Monat zwanzig Mark, die ich ihr brachte, ich konnte das immer dann überprüfen, wenn der Klebestreifen leicht und spurenlos zu lösen war.
    An diesem Winternachmittag bummelte ich auf dem Heimweg über das Rangiergelände der Bahn. Güterzüge fuhren hier selten entlang. Manchmal wurde dort einer der verschlossenen, rotrostigen Waggons für einige Tage abgestellt. An diesen Tagen waren stets ein paar der größeren Kinder auf dem Rangiergelände zu finden. Solange es hell war und die Rangierer dort zu tun hatten oder in ihrem fahrbaren Häuschen saßen und den Kanonenofen beheizten,hielten alle gebührenden Abstand zu den abgestellten Waggons, man blieb in der Nähe und spielte mit Münzen oder mit Messern. Einige Kinder hatten Geld in den Taschen, ein Messer aber besaß jeder von uns, ein zusammenklappbares Taschenmesser vom Vater oder Großvater oder einen Hirschfänger in einer ledernen Scheide, die man am Gürtel tragen konnte. Und einige waren stolze

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