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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Russen ein. Sie beschlagnahmten die besten Gebäude, in der alten Post wurde die Kommandantur der Roten Armee errichtet, und die große Villa von Tefler bewohnten die drei obersten Offiziere mit ihren Adjutanten. Am Tage ihres Einzugs in die Stadt wurde die von den Amerikanern eingesetzte Stadtverwaltung aus dem Rathaus verjagt. Alle Positionen wurden nun mit Kommunisten besetzt und Leuten, die von der kommunistischen Partei benannt worden waren. Und wenn zuvor Geschäftsleute und Beamte Amtsleiter geworden waren, so wurden es nun ausschließlich Arbeiter und Angestellte. Über die Mulde führte jetzt ein schmaler Holzsteg, denn die Amerikaner hatten ihre zusammenklappbare Brücke abgebaut und mitgenommen,und die Russen besaßen solche Technik nicht, sie waren sogar mit Pferden gekommen, die ihre Lafetten zu ziehen hatten. Den Holzsteg hatten russische Soldaten gebaut, die Deutschen hatten ihnen das Holz zu liefern und mussten Handlangerdienste verrichten.
    Damals wohnten meine Eltern in einer Scheune am Stadtrand. Wir waren keine Vertriebenen, sondern kamen aus Leipzig und waren ausgebombt. Die Stadt hatte meine Eltern mit anderen Leuten vom Treck in diese Scheune eingewiesen. Tagsüber mussten meine älteren Geschwister bei den Sachen bleiben, damit sie nicht gestohlen wurden, und so hockten sie mit mir den ganzen Tag in der Scheune und konnten nicht zum Fluss gehen, um den Soldaten beim Brückenbau zuzuschauen. Wir wussten nur das, was uns die anderen Kinder erzählten, denn wir durften die Scheune erst verlassen, wenn die Eltern zurück waren, und dann war es bereits dunkel, und es wurde uns verboten, in der Nacht an die Mulde zu gehen.
    Zu dem schmalen und wackligen Holzsteg, auf dem die Männer den Fluss überquerten, den Frauen erschien er zu gefährlich, und allen Kindern war es laut einer aushängenden Bekanntmachung verboten, ihn zu betreten, zu diesem Steg kam einen Monat später eine Fähre, die von den Arbeitern der Sägefabrik und den drei Tischlern des Ortes gebaut wurde und mit der selbst Pferdefuhrwerke über den Fluss gebracht werden konnten. Im Juni wurde mit dem Bau der Holzbrücke begonnen, und kurz vor dem Winter wurde sie fertig. Bereits drei Monate später wurde sie durch Eisgang in Mitleidenschaft gezogen und musste im Frühjahr für zwei Wochen gesperrt und repariert werden. Einer der hölzernen, schräg gestellten Brückenpfeiler, der die Eisschollen zerschneiden sollte, damit die zerkleinerten Stücke unter der Brücke hindurchgleiten könnten, hatte sich um einige Zentimeter verkantet, und an der Stelle, wo er mit der eigentlichen Brücke verbunden war, sah man zersplitterteBalken und verbogene Eisenkrampen. Der Pfeiler wurde mit Bolzen am Unterbau der Brücke gesichert, und in den Fluss wurden Beton- und Eisenpfähle eingelassen, um die Eisbrecher und Brückenpfeiler zu entlasten.
    Einige Jahre hielt diese Konstruktion, da es wenig Hochwasser gab und das Eis schon geborsten war, ehe es unsere Stadt erreichte, doch acht Jahre nach der Errichtung der Holzbrücke erreichte der Wasserpegel die alte Höchstmarke, und riesige Eisschollen trieben heran und zerstörten drei der fünf Pfeiler, so dass die Brücke erneut gesperrt werden musste. Im Mai begann der Abriss, und die Sägewerksarbeiter zerlegten die Holzkonstruktion. Am Ufer wuchsen riesige Bretterhaufen und Stapel von schwärzlichen, teergetränkten Holzbohlen, und zusammen mit einigen Kameraden klauten wir jede Woche Holz von den unbewachten Lagerplätzen und schafften es mit Handkarren nach Hause. Es war unübersehbar viel Holz, das am Ufer gelagert wurde, doch da die halbe Stadt sich mit Brennholz für den Winter versorgte, wurde schließlich ein Zaun aufgestellt und, weil er allein die Diebstähle nicht verhindern konnte, ein Nachtwächter mit Hund eingestellt. Trotzdem lagen Ende Mai nur noch die meterlangen mannsstarken Bohlen auf der Wiese, die zu schwer und unhandlich waren, als dass man sie ohne Fuhrwerk und Maschinen abtransportieren konnte.
    Im Mai begann der Bau der Steinbrücke, wenige Meter neben der früheren Notbrücke und an derselben Stelle, wo die alte und durch Sprengung zerstörte Brücke gestanden hatte. Die steinernen Reste, die die ganzen Jahre aus dem Wasser geragt und dem Hochwasser und den Eisschollen getrotzt hatten, wurden teilweise abgetragen und zum Teil bei dem Neubau benutzt. Die Brückenbauer kamen aus Leipzig. Die meisten von ihnen wurden am Morgen mit einem Bus gebracht und verließen am Abend die

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