Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
Vom Netzwerk:
du.«
    Ich nickte. Wir betrachteten noch einmal die Baustelle und überlegten, was wir tun könnten, während die anderen immer wieder über die gebratenen Kartoffelkäfer redeten.
    Am nächsten Tag wussten wir immer noch nicht, was wir anstellen wollten, aber die Käfer wurden weniger. Der gelbe Brei der totgetretenen Viecher klebte überall in der Stadt, doch auf den zerfressenen Blättern in den Vorgärten warennur wenige von ihnen zu entdecken. Vielleicht hatten sie sich überfressen oder fanden nichts mehr, weil sie alles vertilgt hatten. Oder das Heer der Käfer war einfach weitergezogen, um über andere Städte und Dörfer herzufallen.
    Dafür gab es bei uns eine andere Aufregung. Die Leute hingen alle an ihren Radioapparaten, um aus dem Rauschen und Gepiepse der Störsender ein paar Nachrichten der verbotenen Sender herauszufischen. Die Stalinorgeln, wie die Störsender bei uns hießen, hatten mal wieder voll aufgedreht. In Berlin gab es irgendwelche Tumulte auf der Straße, über die ausschließlich die westdeutschen Sender etwas meldeten. Sie sprachen von einem Streik, der auf das ganze Land übergreife. In unseren Zeitungen stand nichts davon, und in der Stadt war es ruhig, jedenfalls waren nicht mehr Leute als sonst auf der Straße, und die streikten nicht, sondern gingen einkaufen oder spazieren. Auf dem Schulhof redeten wir über die Gerüchte, und zu Hause saßen meine Eltern jede Stunde vor dem Radio und hörten sich das entsetzliche Schnarren und Pfeifen an, das aus der runden stoffbezogenen Lautsprecheröffnung kam. Wenn sie ein paar Worte verstanden hatten, wiederholten sie diese, um dann wieder zu lauschen. Mich interessierte es nicht, und ich fand es komisch, wie meine beiden Alten mit aufgerissenen Augen vor der Truhe hockten. Schallplatten zu spielen war natürlich ausgeschlossen, alle hatten ganz ruhig zu sein, damit sie kein Wort verpassen.
    Mit Bernhard hatte ich mich für den Nachmittag verabredet. Da die Käfer knapp wurden, mussten wir rasch handeln. Wir hatten am Vortag eine leere runde Pappschachtel von der Baustelle mitgenommen, in der vorher die grobkörnige Seifenpaste war, mit der sich die Arbeiter am Fluss den gröbsten Dreck von den Händen wuschen. Wir wussten nicht, was wir anstellen wollten, und wir wussten nicht, wozu wir die alte Schachtel benutzen könnten, wir hatten sie gefunden und eingesteckt, wie wir alles einsteckten, wasuns irgendwie brauchbar erschien. Als ich mich mit Bernhard nach der Schule traf, sammelten wir Kartoffelkäfer im Kurpark, bis die alte stinkende Pappschachtel randvoll war. Bernhard steckte sie sich unter die Jacke, und wir liefen zum Fluss. Was wir mit der Schachtel und den Käfern machen wollten, wussten wir immer noch nicht. Alles, was uns einfiel, war dummer Schabernack, wie ihn kleine Kinder veranstalten, und wir wollten die Bauarbeiter richtig ärgern.
    Am Anger kamen sie uns plötzlich entgegen. Ein Dutzend Arbeiter lief in Richtung Marktplatz. Sie trugen ihre Arbeitskleidung, einige hatten Mützen oder breitkrempige Hüte auf, und alle hatten den Ledergurt umgeschnallt, in dem ihr Hammer steckte. Sie unterhielten sich aufgeregt und beachteten uns gar nicht, obwohl sie uns fast über den Haufen gerannt hätten. Ich glaube, sie haben uns nicht einmal gesehen. Sie hatten irgendetwas Wichtiges vor und waren sehr beschäftigt. Bernhard sah mich an, wir wussten sofort, dass uns in der nächsten Stunde keiner auf der Baustelle stören würde.
    Es war tatsächlich kein Mensch dort, auch keine Kinder. Wir konnten in aller Ruhe über den Platz laufen und alles durchstöbern. Der Kran war abgeschlossen, die Tür klapperte, als wir daran rüttelten, ließ sich jedoch nicht öffnen. Auch in den Waggon, in dem die beiden Arbeiter übernachteten, kamen wir nicht hinein. Ich ließ mir von Bernhard die Seifenbüchse mit den Käfern geben und ging zu der Holzbank am Flussufer, wo alte Lappen herumlagen, ein verdrecktes Handtuch und die Seifendose. Plötzlich rief mich Bernhard. Er stand an dem Lastwagen, auf dem als Aufsatz eine hölzerne Baubude befestigt war, in der das Handwerkszeug der Arbeiter verwahrt wurde. Als ich zu Bernhard sah, lachte er, griff nach der Türklinke der Bude und öffnete sie. Ich sah mich um, kein Mensch war zu sehen, dann rannte ich zu ihm.
    »Wie hast du das aufbekommen?«
    »Es war offen. Diese Idioten.«
    Bevor wir hineinkletterten, kontrollierten wir die ganze Umgebung. Die hölzerne Trittleiter klappten wir nicht heraus, wir

Weitere Kostenlose Bücher