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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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morgen.«
    »Ist denn morgen Schule?«
    »Ich weiß nicht. Ich denke schon. Oder willst du streiken, Koller?«
    »Wenn alle streiken, ist keine Schule.«
    »Mein Vater sagt, heute Abend und in der Nacht werden sie ein paar Leute verhaften, und dann ist morgen der ganze Spuk vorbei.«
    »Kommt jemand mit auf den Markt?«
    »Nein, keine Lust.«
    »Ich muss nach Hause. Ich will keinen Ärger kriegen.«
    Wir verabschiedeten uns mit einer lässigen Handbewegung.
    Auf dem Markt standen einige Männer auf dem Fahrdamm um den großen weißgestrichenen Holzkasten herum, auf dem eine ausgesägte riesige Friedenstaube thronte und an dem jahraus, jahrein Fahnen hingen. Die Männer standen da und redeten miteinander. Auf den Bürgersteigen rund um den Markt standen viele Leute und sahen zu ihnen, und das war alles, was von dem Streik zu sehen war. Langsam ging ich einmal um den Platz herum. Dreimal wurde ich von Bekannten angesprochen, die mir sagten, ich solle schleunigst nach Hause gehen, hier hätten Kinder nichts verloren. Ich nickte und hielt Ausschau, ob einer von meinen Eltern zu sehen war oder ein Lehrer, aber von ihnen war keiner zu sehen. Ich war enttäuscht. Ich kannte Streiks aus dem Kino, von den Wochenschauen oder aus einigen Spielfilmen, da waren es immer Tausende, die wild entschlossen eine Straße langmarschierten, Lieder sangen, Parolen riefen und irgendein Plakat oder Spruchband herumschwenkten. Auf dem Markt jedoch standen gerade mal dreißig Leute herum, es waren fast alles Männer, keiner rief etwas, und es wurden auch keine Lieder gesungen, es war wirklich langweilig. Nach einer halben Stunde machtendrei der Männer vom Brückenbau eine Räuberleiter und holten die drei Fahnen herunter und warfen sie auf die Straße. Das wurde fast wortlos vollzogen, und keiner schrie etwas oder jubelte, wie ich es aus dem Kino kannte. Hinter den Fensterscheiben war ab und zu jemand zu sehen, die Gardine wurde ein wenig beiseite geschoben, und man sah eine Nasenspitze und ein paar Augen, die minutenlang auf den Marktplatz blickten. In den Fenstern vom oberen Stockwerk des Rathauses sah ich ein paar Köpfe, sie zeigten sich für einen Moment und verschwanden, ehe sie von der Menge unten auf dem Platz entdeckt werden konnten. Nachdem die Fahnen verdreckt auf der Straße lagen, war es wieder ruhig geworden, alle standen herum und warteten, und eigentlich war es so wie jeden Tag.
    Nachdem eine halbe Stunde lang nichts passierte, schlenderte ich sehr langsam und ruhig direkt über den Platz, so dass ich an den Brückenbauern vorbeikam, die die größte Gruppe an der Friedenstaube bildeten. Sie warfen einen kurzen Blick zu mir, beachteten mich jedoch nicht weiter, so dass ich für einige Momente stehen blieb, um ihnen zuzuhören. Sie redeten nicht laut miteinander, sie waren erregt, und vor allem waren sie offenbar ratlos. Sie wussten nicht, was sie tun und wie lange sie hier bleiben sollten. Einer schlug vor, zur Brücke zurückzugehen und die Arbeit wieder aufzunehmen, was die Mehrheit lustlos zurückwies. Sie hatten keinen Anführer, ihnen fehlte jemand, der wusste, was zu tun war und dem sie folgen konnten, so wie ich es im Kino gesehen hatte. Einer schubste mich und sagte, ich solle verschwinden und mich heimscheren, das hier sei nichts für Kinder. Ich grinste ihn an. Wenn du wüsstest, dachte ich bei mir, du wirst Augen machen, du Arschloch, wenn du zu deinem blöden Bauwagen zurückkommst, die Augen werden dir herausfallen, diesen dummen Streik wirst du nie vergessen, es wird teuer für dich, mein Lieber, und ich wette, sie lassen euch alles bezahlen, alles, was wir mitgenommen haben,Bernhard hatte ganz Recht, so viel wie möglich wegzuschleppen, ich wäre gern dabei, wenn du auf den Bauplatz zurückkommst, dann möchte ich dein dummes Gesicht sehen, das ist nichts für Kinder, nicht wahr, du weißt gar nicht, wie Recht du hast.
    Ich ging langsam zur Apotheke rüber, dort schob ich mich durch die Herumstehenden hindurch, die auf dem Bürgersteig standen, zu den Männern auf dem Platz schauten und sich unterhielten. Vier Jungen aus meiner Klasse standen neben der aufgegebenen Tankstelle, von der nur noch die blecherne verrostete Säule übrig geblieben war, der Benzinschlauch war abmontiert, die kleine Bude, in der früher der Tankstellenpächter gesessen hatte, mit der Zeit Stück für Stück abgetragen worden, um die Steine für andere Bauten zu benutzen. Wir begrüßten uns mit einer leichten Kopfbewegung.
    »Grüß

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