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Landnahme

Landnahme

Titel: Landnahme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hein
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Straße noch mal links.«
    Vor dem Haus des Lehrerehepaars stieg er aus und sagte, ich solle im Auto bleiben. Es werde sicher etwas dauern, denn erfahrungsgemäß hätten die Leute viel zu viel Gepäck, das sei fast immer so. Dann müsse er mit ihnen reden und ihnen klar machen, dass sie nicht in einem Reisebus über die Grenze fahren, sondern mit der S-Bahn, und dass sie von Grenzbeamten kontrolliert werden würden. Es gebe regelmäßig Aufregung und Tränen, und schließlich müssten sie alles neu packen. Ich solle mich auf eine halbe Stunde einrichten und immer in der Nähe des Autos bleiben. Es dauerte fast eine Stunde, ehe Bernhard mit den Leuten auf die Straße kam. Ich wollte das Gepäck in das Fach zwischen die Bodenbleche legen, Bernhard schüttelte schweigend den Kopf und wies auf den Kofferraum. Ich öffnete ihn und verstautedort zwei Rucksäcke und einen kleinen Koffer. Das Ehepaar mit dem Kind stieg in den Fond ein, Bernhard setzte sich neben mich, und wir fuhren in Richtung Autobahn. Im Rückspiegel konnte ich das Lehrerehepaar mit dem Kind sehen. Das Kind war offensichtlich ein Mädchen, es war drei oder vier Jahre alt. Die Eltern waren Anfang dreißig, sie waren aufgeregt und unterhielten sich leise. Die Fragen, die sie an uns richteten, beantwortete Bernhard so knapp und schroff, dass sie ihren Versuch, sich mit uns zu unterhalten, bald aufgaben. Hinter Zeitz, auf einer schnurgeraden Strecke entlang eines Wäldchens, ließ Bernhard mich anhalten. Alle mussten aussteigen, und Bernhard und ich verstauten das Gepäck des Ehepaares in dem Fach im Wagenfond. Bernhard sagte zu der Frau, sie solle jetzt ihrer Kleinen eine Tablette geben. Während das Ehepaar sich um ihr Kind kümmerte und von den mitgenommenen Schnitten aß, vertraten wir uns die Beine und rauchten eine Zigarette.
    Am Kontrollpunkt wurden wir angehalten. Damals, als die Mauer noch nicht stand, gab es um ganz Berlin herum diese Kontrollposten. Auf der Autobahn und allen Landstraßen standen Polizeistreifen, man musste langsam heranfahren, und entweder winkten sie einen wortlos weiter oder irgendetwas im Auto fiel ihnen auf und sie hielten einen an. Ich war ganz langsam herangerollt, um nicht verdächtig zu wirken. Einer der Polizisten bekam große Augen, als er meinen Wagen erblickte. Er winkte uns an den Straßenrand, wir mussten unsere Ausweise vorzeigen und wurden nach dem Reiseziel gefragt. Der Polizeiposten forderte mich auf, auszusteigen und den Kofferraum zu öffnen. Da dort nur der Rot-Kreuz-Kasten und ein Reserverad lagen, war er zufrieden. Er warf einen Blick zu dem Lehrerehepaar. Da auf deren Knien das kleine Mädchen schlief, machte er zu mir eine Handbewegung, ich konnte weiterfahren.
    »Sehr gut«, sagte Bernhard leise zu mir, »so fix bin ich selten durch die Kontrolle gekommen. Diese Kiste ist zwar teuflisch auffällig, aber wenn man das Gepäck verschwinden lassen kann, das ist Gold wert. Ich sollte mir ebenfalls so einen Oldtimer zulegen. Ist so etwas zu bekommen?«
    »Nein. Den musst du dir selber zusammenbauen. Und bei mir hat das zwei Jahre gedauert.«
    »Dann lege ich mir lieber einen alten Lastwagen zu. Da gibt es genügend Stauraum, und er ist weniger aufsehenerregend.«
    »Und er kommt dich vermutlich billiger.«
    »Was verbraucht deine Kiste? Fünfzehn Liter?«
    »Wenn ich gemütlich vor mich hin fahre, komme ich vielleicht damit hin. Das habe ich jedoch noch nie geschafft.«
    »Gütiger Himmel. Da werde ich dir wohl das Benzingeld geben müssen.«
    »Käme mir recht. So langsam bin ich nämlich klamm. Ich habe nur Ausgaben, immerzu.«
    »Warts ab. Du verdienst noch genug.«
    Er wies mir in Berlin den Weg, und ich versuchte, mir die Strecke einzuprägen. Als wir auf einer breiten Ausfallstraße kilometerlang geradeaus fuhren, drehte er sich zu dem Lehrer um und sagte: »So. In fünf Minuten sind wir am Ziel. An Ihrem ersten Ziel. Dann übernimmt Sie ein Kollege. Sie können mir jetzt das Geld geben.«
    Der Lehrer griff in die Jackentasche, zog einen Umschlag heraus und reichte ihn vor. Bernhard öffnete ihn und zählte das Geld nach, ich sah, dass es mehrere hundert Mark waren. Als Bernhard meinen Blick bemerkte, zwinkerte er mir vergnügt zu.
    An der Kiefholzstraße kamen wir eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit an. Rechts war ein Bahndamm, auf der linken Straßenseite war ein Ruinengrundstück und eine Grünfläche, auf der mal ein Haus gestanden hatte. Keine Menschenseele war auf der Straße zu sehen.

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