Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
gesellschaftsfähigem Umgang war, wenn auch nicht unbedingt von Stand. Von Zeit zu Zeit bekam sie daher Anfragen, ob es ihr möglich und angenehm sei, einen Herrn aus besserem Hause für einen Abend zu begleiten. Selbstverständlich gegen eine angemessene Bezahlung und unter Wahrung größtmöglicher Diskretion. So ergab sich ab und an für manch sonst einsamen Kaufmann auf der Durchreise die Möglichkeit, einem geschäftlichen Abendessen beizuwohnen oder einer anderen festlichen Einladung zu folgen, ohne alleine erscheinen und wieder gehen zu müssen.
Ellen war belesen und politisch gebildet. Sie konnte sich ohne Mühe in allen gesellschaftlichen Schichten bewegen und an beinahe jeder Konversation angemessen beteiligen.
Darüber hinaus verfügte sie noch über einige spezielle Fertigkeiten, die allerdings erst später in der Nacht zum Tragen kamen ...
Dieser Anfrage hätte sie schlichtweg nicht ihr Einverständnis geben sollen. Doch dummerweise hatte sie es getan – vielleicht aufgrund fehlender schlechter Erfahrungen und eines erheblichen Vertrauens in die gesellschaftlichen und privaten Bedürfnisse der Männerwelt.
Der Brief enthielt die Bitte, sie möge als Begleiterin für einen venezianischen Maskenball fungieren. In Nienstädt habe ein englischer Geschäftsmann zu einem solchen geladen, und ihr Kunde brauche für diesen Abend eine angemessene Begleitung.
Sie hatte zugestimmt. Es war ihr schon ein wenig seltsam vorgekommen, erst am Abend des Festes abgeholt zu werden, allerdings lag Nienstädt nicht sonderlich weit weg, sodass es zeitlich hinkommen mochte, wenn man im Laufe des Abends dort eintreffen wollte. Zudem war der Gastgeber britisch, und die gesellschaftlichen Gewohnheiten der Briten waren bekanntermaßen immer etwas anders – schließlich veranstaltete er ja auch einen venezianischen Maskenball. Was auch immer ihn dazu bewog ...
So hatte sie kostümiert und maskiert an der Straße gewartet, bis ihr ebenfalls maskierter Kunde zu Pferd aufgetaucht war. Zwar fand sie die spitzen, weißen Masken etwas schauderhaft, doch ihr Kunde war mit einer geschmeidigen Bewegung abgestiegen und hatte ihr auf das Reittier geholfen. Der Statur nach musste es sich um einen jungen Mann handeln, er war schlank gebaut, vielleicht gar drahtig, sportlich und gut durchtrainiert. Doch dies gedachte sie erst später am Abend herauszufinden. Es wirkte verwegen, wie er in dem langen, dunklen Gewand elegant umher wirbelte.
Galant, jung und verwegen – zumindest konnte er hervorragend den Verwegenen spielen. Etwas von der alten Erregung bebte plötzlich in ihr, und sie fand es chic, hinter ihrem vornehmen Gentleman auf dem Pferd davonzupreschen.
Die Nacht rauschte an ihnen vorbei, während das Pferd durch den silbrigen, herbstlichen Mondschein galoppierte, einer Szene aus einem modernen französischen Roman gleich.
Lang lebe die Nacht!
Doch so abenteuerlich wohltuend die Reise nach Nienstädt begann, so abrupt endete sie für Ellen.
Ihr Kunde zügelte das Pferd zu einer langsameren Gangart und kürzte zwischen zwei Wegen über ein abgeerntetes Feld ab. Nebelschwaden umspielten züngelnd ihre Beine, während Ellen die weniger stürmische Phase des Rittes nutzte, um ihre Röcke zu glätten, denn die kühle Luft des frühen Herbstes wehte eisig um ihre Knöchel.
Vielleicht hätte sie die schlanke Taille des Reiters besser nicht losgelassen ... Auf der anderen Seite: Was hätte es ihr genützt, sich krampfhaft festzuhalten?
Ein Ellenbogen traf sie kräftig an der Schläfe, und Ellen fiel vom Pferd in den weichen, aufgewühlten Boden des schon gepflügten Ackers. Sie schrie nicht. Nur ein erschrockener Seufzer entrann ihrer Kehle. Noch hielt sie den Sturz für ein bedauerliches Versehen. Es war sicherlich leicht, darüber hinwegzusehen, denn der lockere Boden hatte ihren Fall erfreulich weich abgefedert. Sie würde bei ihrer Ankunft in Nienstädt nur für einige Augenblicke in irgendjemandes Gemächer verschwinden müssen, um sich wieder gesellschaftsfähig herzurichten – jeder würde Verständnis dafür haben.
Doch ihr Gentleman machte keine Anstalten, ihr aufzuhelfen, geschweige denn, ihr wieder auf das Pferd zu helfen.
Stattdessen schien er sie zu beobachten, während sie sich aufrappelte.
Nach einigen Augenblicken trieb er dann seinem Pferd die Hacken in die Flanken, und das Tier sprengte davon, hinein in die nebelverhangene Nacht, den ungläubigen Blicken Ellens entkommend.
Fluchend schalt sie sich, versuchte,
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