Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
hatten.
„Caspar?“, hallte eine Stimme von oben herab, und wir blickten unwillkürlich hinauf.
Der erste Farbtupfer eines ansonsten herbstlichen Tages stand am Treppengeländer. Eine junge Frau – vielleicht zwischen Anfang und Mitte zwanzig, also etwa so alt wie Hagen – von überwältigender Anmut blickte erstaunt auf uns herab, in der einen Hand eine Violine, in der anderen einen Bogen haltend. Sie war keine klassische Schönheit und dennoch überwältigend. Ihre langen, dunklen Haare fielen auf ihre Schultern herab, doch wirkte sie trotz ihrer geringen Körpergröße und der Blässe im Gesicht nicht etwa kränklich oder wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe. Ganz im Gegenteil, der Raum war mit einem Mal erfüllt von ihrer Präsenz, obwohl ihre Stimme eher fein war und ihr Körper schlank. Ansonsten schmucklos trug sie nur eine schnörkellose goldene Kette mit einem Anhänger.
„Oh, pardon“, entschuldigte sie sich, als sie uns erblickte. „Ich wusste nicht, dass mein Vater Gäste erwartet.“
Salandar war der Einzige, der sich schnell genug vom Bann der jungen Frau befreien konnte, um halbwegs elegant zu reagieren.
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Comtesse“, lächelte er. „Es ist uns Ehre genug, Gäste in Ihrem Haus sein zu dürfen. Dass wir dabei von solcher Anmut berührt werden, macht es zu einer noch größeren.“
„Sie schmeicheln mir“, winkte die Grafentochter ab.
„Oh, reden Sie sich das nicht ein“, mahnte Salandar sanft und deutete einen Bückling ein.
„Was tun Sie hier?“, wechselte sie das Thema.
„Ihr Vater bat uns, uns einer delikaten Angelegenheit anzunehmen“, sprang ich in die romantisierte Bresche, die Salandar geschlagen hatte – ehe Hagen den Mund aufmachen konnte.
„Ich kann mir schon denken, worum es geht. Also hoffe ich natürlich, dass Ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden. Nun entschuldigen Sie mich bitte!“
Höflich und keinesfalls überhastet oder verschreckt schritt sie ihrer Wege durch dieselbe Tür, durch die sie an die Balustrade getreten war.
Als sie das Foyer verlassen und ihren Bann von uns genommen hatte, sah ich Hagen das erste Mal seit ihrem Erscheinen an und war mir einer Sache gewiss: Egal, mit welcher Aufgabe der Graf uns betrauen würde – und würde er uns ins sagenumwobene Sydney am anderen Ende der Welt schicken – der junge Hagen würde dieser mit der größtmöglichen Gewissenhaftigkeit nachgehen.
Auf der einen Seite war das sicher gut für unsere Effizienz. Auf der anderen Seite konnte es nichts Gutes verheißen, wenn sich unser guter Hagen in die Tochter eines Grafen verliebte. Doch hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, welches Schicksal uns die Grafschaft zu Eulenbach bereiten würde, hätte ich mich um völlig andere Dinge gesorgt als um Hagens Emotionen.
Eine getäfelte Tür sprang auf, und mit langen Schritten eilte ein großer, sehr blasser Mann auf uns zu. Er war schlicht, wenn auch sehr edel in Hemd und Weste gekleidet, trug das halblange, aber schon von etlichen grauen Strähnen durchzogene Haar fesch. Doch offensichtlich nahm er Abstand von den üblichen Haarfärbemittelchen der adeligen Stände. Er wirkte irgendwie ... traurig oder melancholisch, auch wenn seine Körperhaltung von Kopf bis Fuß etwas anderes suggerierte.
Er streckte Salandar eine Hand entgegen.
„Sie müssen Salandar sein.“
Salandar schaute etwas perplex, besann sich aber seiner Tugenden.
„Graf von Eulenbach, danke für Ihre Einladung. Woher wussten Sie, wer ich bin?“
Der Graf musterte ihn kurz, zwinkerte dann mit beiden Augen und meinte: „Ihr eigenwilliger Name und Ihr Kleidungsstil tun ihren Teil dazu. Da man mich aus einschlägigen Kreisen an Sie weiterempfohlen hat, konnte ich Sie wohl schwerlich verfehlen.“
„Hat man das?“
Salandar zog erstaunt die Brauen hoch, doch der Graf ging nicht weiter darauf ein.
„Wer sind Ihre Begleiter?“, fragte er.
Artig stellte Salandar uns vor.
„Der junge Mann ist Hagen zur Mark.“
„Ebenfalls aus adeligem Hause?“, fragte unser Gastgeber, aber Hagen schüttelte höflich den Kopf.
„Verarmt“, meinte er leise. „Nicht der Rede wert.“
„Kopf hoch!“, ermunterte ihn der Graf. „Der Krieg hat nirgendwo etwas Gutes hinterlassen, aber dass ich einen jungen Mann von Stand in meinem Hause begrüßen darf, freut mich.“
Damit wandte er sich mir zu und gab mir die Hand.
„Lucien Croire“, stellte ich mich vor.
„Franzose?“, hakte der Graf nach
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