Lang lebe die Nacht: Ein phantastischer Historienroman (German Edition)
Salandar oder Hagen war ich nicht in der Lage, mich mit Literatur zu befassen, während die Kutsche durch die von den Kriegen mit Frankreich gebeutelten Lande schaukelte. Versuchte ich auch nur ansatzweise, die Buchstaben zu fokussieren, wurde mir im Handumdrehen speiübel.
Mir blieb also nichts anderes übrig, als durch die Fenster in die Ferne zu starren und mich zu wundern, wie die Menschen es nach jedem Krieg, der über sie hinwegfegte, tapfer schafften, sich ihr Leben Stück für Stück zurückzuerobern. Der grässliche Bonaparte hatte vielerorts keinen Stein auf dem anderen gelassen. Hatten wir nicht alle unsere Geschichtsbücher gelesen? Sicherlich, die Jahrtausende hatten große Feldherren, mächtige Kaiser und gewiefte Strategen hervorgebracht, aber ich konnte es immer wieder kaum begreifen, dass die Menschen es nicht leid geworden waren, ein ums andere Mal hinter ihnen aufzuräumen.
So philosophierte ich durch meinen Tabakdunst hindurch, während Hagen seine Nase in eine noch vor der Abreise an die Lahn erstandene, druckfrische Ausgabe von Goethes Pandora steckte. Salandar las abwechselnd in der Wochenausgabe einer großen britischen Zeitung und einigen Grimoires und anderen okkulten Werken, die er auf Wissen überprüfte, das uns helfen konnte.
An einem dieser sonnengefluteten, aber öden Tage kam es zu einem Zwischenfall, der sich besser nicht ereignet hätte – zumindest für einige der Beteiligten.
Der plumpe Versuch, uns durch das Vortäuschen eines gestürzten Reiters zum Anhalten zu bewegen und anschließend zu überfallen, war sicherlich nicht verwerflich in Zeiten, in denen das Essen weiß Gott nicht vom Himmel fiel. Jedoch musste ich den Rest des Tages darüber nachsinnen, dass es doch ein arg riskantes Geschäft war, wenn die Zielobjekte einer solchen Unternehmung wehrfähig und wenig skrupelbehaftet waren – so wie in unserem Fall.
Immerhin nahmen wir uns am Ende des armen, nun herrenlosen Tieres an und führten es neben der Kutsche her, nur um es an der nächsten Poststation für den Spottpreis einer Übernachtung einzulösen. Aber einem geschenkten Gaul schaute man bekanntlich nicht ins Maul, wie es so schön hieß.
3.
Seelenruhe war ein wahrhaft beneidenswerter Zustand. Den einen oder anderen dunklen Fleck auf der Landkarte der Vergangenheit besitzt wohl jeder von uns. Bei einigen – so wie bei meinen Freunden und mir – schienen diese Flecken größer und bedrohlicher zu schimmern als bei anderen. Aber eine sprichwörtliche Leiche hatte jeder im Keller, ganz gewiss.
Umso entspannter war es, wenn man der lieben Seele einmal Ruhe gönnen konnte, weil man sich an einem Punkt befand, an dem es einen nicht mehr störte, was einst richtig oder falsch gewesen war.
Nach unserem mehr oder minder glücklichen Ausflug an die Lahn verfiel ich in jenen lethargisch-genüsslichen Zustand, der einen nach getaner Arbeit überfällt. Hagen und Salandar waren womöglich schon darüber hinweg, und frischer Tatendrang begann, sie zu erfüllen. Aber bei mir verursachte das ewige Schaukeln von Jakobs Kutsche bloß Anspannung, sodass eine Erholung meinerseits erst einsetzte, als wir Hameln erreichten. Wo einst die prächtigen Tore einer beeindruckenden welfischen Befestigung aufgeragt hatten, hatte der teuflische Bonaparte nur Staub und Schutt übrig gelassen. Alle Festungsanlagen der Stadt hatten die Franzosen geschliffen, nachdem sich Hameln ergeben hatte – völlig grundlos, wie man sich immer noch in den Gassen und hinter vorgehaltener Hand beschwerte. Sollte der abgesetzte französische Despot doch in seiner Verbannung verrotten!
Da der Krieg so zumindest nicht innerhalb der Stadtmauern gewütet hatte, bot Hameln immer noch einen beeindruckenden Anblick. Adel und reiche Kaufleute hatten die Häuser größer, protziger und schöner als vor den Kriegsjahren ausbauen lassen, sodass die Hansestadt sich mit großen Städteschönheiten wie Köln oder München messen konnte. Auch wenn sie natürlich ansonsten viel beschaulicher war.
Doch mit dem Abriss der Stadtmauern waren auch ungebetenen Gästen Tür und Tor geöffnet worden. Während die örtlichen Behörden in diesen ersten Jahren nach der Besatzung nur langsam Herr der Situation wurden, bekam der Ruf der stolzen Stadt durch zwielichtiges Gesindel und andere Umtriebe zum ersten Mal seit der Rattenfänger-Legende wieder einen bitteren Beigeschmack.
Wenn ich ehrlich war, so war es gerade diese Verwegenheit, die uns anzog. Unter französischer
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