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Lange Zähne

Lange Zähne

Titel: Lange Zähne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Moore
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Blick abzuwenden und stur weiterzugehen wie alle
anderen. Vielleicht war das etwas, das man nach einer Weile entwickelte.
Vielleicht stumpfte der beständige Anblick von Elend und Verzweiflung das
Mitgefühl ab. Die Bitte um Geld für Essen ließ jedesmal seinen Magen knurren,
und ein Quarter war ein geringer Preis, um ihn zum Schweigen zu bringen. Die
Bitte um Eyeliner sprach den Schriftsteller in ihm an, jenen Teil von ihm, der
überzeugt war, daß kreative Einfälle es wert waren, belohnt zu werden.
    Gestern hatte er gehört, wie ein
Tourist einem Obdachlosen sagte, er solle sich endlich eine Arbeit besorgen.
»Einen Einkaufswagen diese Scheißhügel rauf und runter zu schieben ist Arbeit«,
hatte der Obdachlose erwidert.
    Tommy hatte ihm einen Dollar
gegeben.
    Es war noch immer hell, als Tommy
das Enrico's am Broadway erreichte. Er blieb kurz stehen und ließ seinen Blick
über die wenigen Gäste schweifen, die auf dem Patio neben der Straße aßen. Jody
war noch nicht da. Tommy ging zum Empfang und reservierte für eine halbe Stunde
später einen Tisch draußen.
    »Gibt es hier in der Nähe eine
Buchhandlung?« frage er.
    Der Oberkellner, ein schlanker,
bärtiger Mann in den Vierzigern mit makellosen nachrichtensprechergrauen Haaren
zog die Augenbraue hoch. Er gab Tommy mit dieser kleinen Geste das Gefühl, der
letzte Dreck zu sein. „City Lights ist einen Block weiter an der Ecke zur
Columbus«, sagte der Oberkellner.
    »Oh, stimmt!« erwiderte Tommy und schlug sich gegen die
Stirn, als wäre es ihm gerade wieder eingefallen. »Ich bin gleich wieder da.«
    »Wir können unsere Freude kaum bezähmen“,
bemerkte der Oberkellner. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging weg.
    Tommy wandte sich um und
marschierte den Broadway hinauf, bis er vor einem Striptease-Schuppen von einem
Anreißer, einem Mann mit einem roten Frack und einem Zylinder, angesprochen
wurde.
    »Möpse, Möpse, Möpse. Kommen Sie
herein, Sir. Die Show fängt in fünf Minuten an.«
    »Nein, danke. Ich habe gleich eine
Verabredung zum Abendessen.«
    »Bringen Sie die kleine Lady doch
mit! Diese Show kann ein »Vielleicht« in eine sichere Sache verwandeln,
Söhnchen. Die wird ein ganz feuchtes Höschen kriegen, bevor Sie hier wieder
rausgehen.«
    Tommy wand sich. »Vielleicht«,
sagte er. Er eilte davon, bis ihn zwei Türen weiter der nächste Anreißer -
diesmal eine vollbusige Frau in Leder und mit einem Nasenring - aufhielt.
    »Die schönsten Mädchen der Stadt,
Sir. Alle nackt. Alle heiß. Kommen Sie rein!«
    »Nein, danke. Ich habe gleich eine
Verabredung zum Abendessen.«
    »Bringen Sie ...«
    »Vielleicht«, sagte Tommy schnell
und ging weiter.
    Er wurde noch dreimal angehalten,
bevor er das Ende des Blocks erreicht hatte, und jedesmal lehnte er höflich ab.
Es fiel ihm auf, daß er der einzige war, der stehenblieb. Die anderen Passanten
gingen einfach weiter, ohne sich um die Anreißer zu kümmern.
    Daheim ist es unhöflich, jemanden
zu ignorieren, der dich anspricht, dachte er bei sich, besonders wenn er dich
»Sir« nennt. Ich vermute, ich muß noch viel über die Großstadt-Etikette lernen.
    Ihr blieb eine Viertelstunde,
bevor sie Tommy im Enrico's treffen sollte. Abzüglich einer weiteren Busfahrt
und eines kurzen Fußwegs hatte sie also noch sieben Minuten, um etwas zum
Anziehen zu finden. Sie betrat mit einem Bündel Hundertdollarscheine in der
Hand das »Gap« an der Ecke Van Ness und Vallejo und verkündete: »Ich brauche
Hilfe. Sofort!«
    Zehn Verkäuferinnen, alle jung,
alle in identisch legere Baumwollklamotten gekleidet, blickten von ihren
Unterhaltungen auf, erspähten das Geld in Jodys Hand und hörten simultan auf zu
atmen - ihre Gehirne schalteten die Körperfunktionen ab und leiteten die
Energie um, die dazu benötigt wurde, die geschätzte Provision, die Judys
Bargeld versprach, zu errechnen. Eine nach der anderen fingen sie wieder an zu
atmen und marschierten zu ihr herüber, in ihren Augen ein betäubter, hungriger
Blick: ein Rudel Zombies aus der Teenie-Version von Die Nacht der lebenden
Toten.
    »Ich trage Größe 40, und ich habe
in fünfzehn Minuten ein Rendezvous«, erklärte Jody. »Ziehen Sie mich an!«
    Sie stürzten über sie ein wie eine
bösartige khakifarbene Welle.
    Tommy saß an einem Patio-Tisch,
der durch einen niedrigen, gemauerten Blumenkübel vom Bürgersteig getrennt war.
Um den Muschi-Bar-Anreißern zu entgehen, hatte er auf dem halben Block von der
City-Lights-Buchhandlung bis zu Enrico's

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