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Langoliers

Titel: Langoliers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Umschläge, Büroklammern; geplatzte Schecks. Er konnte hier Schichten spüren, die fast geologisch waren – Lagen erstarrten Sommerlebens. Und es war beruhigend. Er war mit einer Schublade fertig und wandte sich der nächsten zu, während er die ganze Zeit daran denken musste, welche Empfindungen John Shooter und John Shooters Geschichte – seine Geschichte, verdammt! – in ihm ausgelöst hatten.
    Das Offensichtlichste war natürlich, dass ihm nach einer Zigarette zumute war. Es war nicht das erste Mal in den letzten vier Jahren, dass er so empfand; es hatte Augenblicke gegeben, da hatte allein der Anblick von jemand, der in einem Auto an der Ampel in der Spur neben ihm vor sich hin paffte, schon ausgereicht, eine vorübergehende, unbeherrschte Lust nach Tabakkonsum in ihm ausgelöst. Aber das Schlüsselwort dabei war selbstverständlich vorübergehend. Dieses Verlangen war rasch wieder verschwunden, wie heftige Regenschauer – silberne, undurchsichtige Regenschleier fallen vom Himmel, und fünf Minuten später scheint die Sonne wieder. Er hatte nie das Bedürfnis verspürt, unterwegs vor einem Tabakladen anzuhalten, um sich eine Packung Zigaretten zu kaufen … oder im Handschuhfach zu suchen, wie er jetzt seinen Schreibtisch durchstöberte.
    Er empfand Schuldgefühle, und das war absurd. Zum Verrücktwerden. Er hatte John Shooters Geschichte nicht gestohlen, das wusste er – wenn jemand gestohlen hatte (und das musste so sein; Mort konnte nicht glauben, dass sich die beiden Geschichten so ähnlich sein könnten, wenn einer der Mitspieler nicht vorher von der anderen gewusst hatte), dann war es Shooter gewesen, der von ihm gestohlen hatte.
    Selbstverständlich.
    Das war so eindeutig wie die Nase in seinem Gesicht … oder der runde schwarze Hut auf John Shooters Kopf.
    Und trotzdem fühlte er sich beunruhigt, durcheinander, schuldig … er war auf eine Weise ratlos, für die es möglicherweise kein Wort gab. Und warum? Nun … weil …
    In diesem Augenblick hob Mort eine Fotokopie des Manuskripts von Der Sohn des Leierkastenmanns, und darunter fand er eine Packung Zigaretten Marke L & M. Stellten sie L & M überhaupt noch her? Er wusste es nicht. Das Päckchen war alt, zerknittert, aber eindeutig nicht platt gedrückt. Er nahm es heraus und betrachtete es. Er überlegte, dass er dieses spezielle Päckchen 1985 oder 1986 gekauft haben musste, wollte man der unexakten Wissenschaft der Schichten glauben, die er – in Ermangelung eines besseren Wortes – Schreibtischologie nennen wollte. Schließlich war Der Sohn des Leierkastenmanns im Januar 1986 veröffentlicht worden, und die Fotokopie hatte gleich auf dem Päckchen L & M gelegen.
    Er riss den Packungsdeckel ab und sah hinein. Er erblickte drei kleine Sargnägel darin, alle in einer Reihe.
    Zeitreisende aus einem anderen Zeitalter, dachte Mort. Er steckte eine Zigarette in den Mund, dann ging er in die Küche und holte sich ein Streichholz aus dem Kästchen beim Herd. Zeitreisende aus einem anderen Zeitalter, die durch die Jahre reisen, geduldige, zylindrische Reisende, deren Mission darin besteht zu warten, auszuharren, sich die Zeit zu vertreiben, bis der richtige Augenblick gekommen ist, mich wieder auf den Weg zum Lungenkrebs zu führen. Und es scheint, als wäre dieser Zeitpunkt endlich gekommen.
    »Wahrscheinlich schmeckt sie beschissen«, sagte er laut in das leere Haus (Mrs. Gavin war schon längst nach Hause gegangen) und zündete die Spitze der Zigarette an. Sie schmeckte ziemlich gut. Er schlenderte ins Arbeitszimmer zurück, paffte vergnügt vor sich hin und fühlte sich angenehm gelöst. Oh, die grässliche, geduldige Beharrlichkeit der Sucht, dachte er. Was hatte Hemingway gesagt? Nicht diesen August, nicht diesen September – dieses Jahr musst du tun, was dir gefällt. Aber die Zeit kehrt wieder. Immer. Früher oder später steckt man sich wieder etwas in seinen großen dummen Mund. Einen Drink, etwas zu rauchen, vielleicht den Lauf einer Schrotflinte. Nicht diesen August nicht diesen September …
    … unglücklicherweise war es Oktober.
    Zu Beginn seiner Suchaktion hatte er ein altes, halbvolles Glas Planters-Erdnüsse gefunden. Er bezweifelte, ob die Nüsse noch genießbar sein würden, aber der Deckel des Glases gab einen ausgezeichneten Aschenbecher ab. Er saß hinter seinem Schreibtisch, sah zum See hinaus (die Boote, die vorher dort kreuzten, waren fort, genau wie Mrs. G.), genoss seine alte, böse Angewohnheit und stellte fest, dass

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