Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Am auffälligsten aber sind die Kanister mit dem Olivenöl, die sich draußen vor dem Eingang stapeln, damit sie im Laden nicht die Fläche wegnehmen. Wohlgemerkt: keine Flaschen, wie man sie von mitteleuropäischen Supermärkten kennt, sondern große Blechbüchsen im Fünf- oder Zehn-Liter-Format. Auf dem Marktplatz Dutzende agiler Senioren und hier vor dem Laden hektoliterweise ungesättigte Fettsäuren. Das fällt schon ziemlich ins Auge und lässt einen Zusammenhang vermuten. Denn Olivenöl ist ein wesentlicher Bestandteil der Mittelmeerdiät und hält bekanntermaßen das Herz-Kreislauf-System in Schuss.
Die Senioren in Daratsos wirken wie der leibhaftige Beleg für diese Wirkung.
Sicherheitshalber spreche ich jedoch einen der alten Herren an, die vor dem Marktcafé sitzen. Er wird demnächst 90. Ich frage ihn, was er selbst als Grund für sein gesegnetes Alter sehen würde. Seine Antwort: »Ich hatte immer Arbeit. Und ich hatte niemals wirklichen Kummer.« Die Ernährung spielt keine Rolle? »Doch. Ich habe niemals hungern müssen. Ich sagte ja: Ich hatte niemals wirklichen Kummer.« Und das Olivenöl? »Was soll damit sein?« »Na ja, hat Ihnen das geholfen, so alt zu werden?« »Keine Ahnung. Wer kann das schon wissen? Das haben hier doch alle.« Dann nickt uns der Mann zu, ergreift seinen Stock und geht. Vom Wirt hören wir, wohin er gehen wird. Nämlich zurück in sein vier Kilometer entferntes und 200 Meter höher gelegenes Nachbardorf, so wie er
es jeden Tag bei jedem Wetter macht. Einmal, so der Wirt, musste der Alte am Knie operiert werden, wegen seiner Arthrose. »Nur ein paar Tage später war er wieder auf den Beinen. Hat sich den Stock geschnappt und ist hierher gekommen. Seine erste Tour hat mehr als zwei Stunden gedauert. Doch er sagte nur: ›Ich hab doch Zeit. Außerdem: Wenn du bequem wirst, bist du schon tot.‹ Am Abend ist er dann wieder hochgeschaukelt in sein Dorf.« Manchmal sagen kleine Aktionen mehr als viele Worte.
Keiner einzigen Ernährungslehre ist es bislang gelungen, ihren gesundheitlichen Wert zweifelsfrei zu belegen. Wir wissen wohl, dass französische Rotweintrinker sowie die Fisch-und Grünteekonsumenten von Okinawa, aber auch Vegetarier und Mittelmeerköstler überdurchschnittlich lange leben und sich einer überdurchschnittlichen Gesundheit erfreuen. Wir wissen aber nicht, ob es an ihrer Ernährung liegt. Die Ursache für diese Erkenntnislücke liegt darin, dass solche Menschen nicht nur anders essen und trinken, sondern oft auch ein anderes Erbgut haben und in jedem Fall anders leben als die übrigen Menschen. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass ihr besserer Gesundheitszustand nur relativ wenig mit ihrer Ernährung zusammenhängt.
Dies gilt nicht nur für Kreta, Südfrankreich und Japan, sondern auch für unsere Breiten. Das Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung hat die typischen Merkmale jener Leute hierzulande erfasst, die auf eine anspruchsvolle und gesundheitsbewusste Ernährung achten. Das Ergebnis: Sie sind 26 bis 45 Jahre alt, überwiegend weiblich und Nichtraucher, drei Viertel von ihnen haben einen akademischen Abschluss, nur in jedem dritten Haushalt lebt ein Kind. Mit anderen Worten: Die Anhänger einer gesunden Ernährung rekrutieren sich aus gebildeten Besserverdienern, die nicht rauchen und nicht saufen, und die nur wenige Kinder haben. All das sind Faktoren, die – jeder für sich – als lebensverlängernd bekannt sind. Ganz zu schweigen davon, dass die Bewusst-Ernährer
meistens noch weiblich sind, was allein schon drei bis fünf Jahre auf der Lebensjahrskala bringt. Die gesunde Ernährung ist eben nur ein Rädchen im Gesamtgetriebe eines gesunden Lebens.
Daran ändert auch der Einsatz von Functional Food und Nahrungsergänzungsmitteln nichts, die hierzulande mit milliardenschweren Umsätzen verkauft werden. Sie werden zwar oft als Prävention vor Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit auch vor einem frühzeitigen Tod angepriesen, doch eindeutige wissenschaftliche Daten dafür fehlen. Dänische Forscher kommen in einer Analyse von 47 klinischen Vitamin-Studien zu dem Schluss, dass Vitamin-C-Präparate das Leben nicht verlängern – und die Vitamine A und E sowie Beta-Carotin es sogar verkürzen können. Geradezu Legenden-Status erreichte eine amerikanische Untersuchung aus dem Jahr 1996, in der man die Wirkung von Vitamin A und Beta-Carotin auf Raucher austestete. Eigentlich hatte man erwartet, dass sie seltener an
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