Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Also beschloss Juliane, dem Rinnsal zu folgen: »Denn wer im Urwald auf Hilfe wartet, stirbt.«
Bekleidet mit einem zerrissenen Sommerkleid und »versorgt« mit nichts außer einer Tüte Bonbons, machte sich die schwerverletzte Schülerin auf den Weg. Von ihren Eltern hatte sie genug über die Tier- und Pflanzenwelt des Dschungels gelernt, sodass sie nicht in Panik geriet. Doch Ängste waren natürlich da. Vor den giftigen Stachelrochen, die wie Tretminen im Wasser warteten. Vor den Vogelspinnen und Schlangen, vor den dornigen Ästen. Außerdem hatte Juliane eine Eiterwunde am Bein, in der sich die Maden von Stechfliegen einnisteten, und die Mücken setzten ihr zu, als wollten sie keinen Tropfen Blut in ihr lassen. Ruhe vor diesen Plagegeistern gab es nur, wenn sich nachts der berüchtigte Amazonasregen über die junge Frau ergoss – doch dann waren es dessen knallhart und senkrecht herunterfallenden Wassertropfen, die ihre Haut wie Peitschenhiebe traktierten.
Nach drei Tagen verstummten die Suchflugzeuge. Juliane musste sich also damit abfinden, dass man an anderen Stellen suchte oder sogar aufgegeben hatte. Die Bonbontüte war mittlerweile ebenfalls leer, und die diversen Früchte des Dschungels kamen als Speisen nicht in Frage, ihre Eltern hatten stets davor gewarnt. Das zierliche Mädchen spürte, wie ihre Kräfte
schwanden. Doch das Schlimmste waren die Nächte: »Ich zitterte vor Kälte und fühlte mich unendlich einsam. Die Trostlosigkeit hat mich manchmal regelrecht erdrückt – und dann kommt man irgendwann an den Punkt, wo es leichter erscheint, aufzugeben und zu sterben, als weiterzumachen.«
Doch noch war es nicht so weit. Juliane ging weiter, zehn Tage lang. Dann war sie mit ihren Kräften am Ende. Doch plötzlich stieß sie auf ein Boot, und einige Meter weiter auf eine Holzhütte. Spuren menschlichen Lebens! Juliane legte sich in die Hütte, apathisch und völlig erschöpft. Einen Tag später wurde sie tatsächlich gefunden, von drei Holzfällern, die sie versorgten und in ihr Dorf brachten. Julianes Tortur hatte ein Ende – und die Welt rätselte, wie ein zierliches, hellhäutiges, junges Mädchen, schwer verletzt und praktisch ohne Nahrung, elf Tage in einem Urwald überleben konnte, der den meisten von uns schon nach einem Drittel der Zeit den Garaus machen würde. Ganz zu schweigen davon, dass sie noch heute, trotz ihrer einschneidenden Erfahrungen, regelmäßig mit dem Flugzeug in den peruanischen Urwald reist und sich für dessen Rettung stark macht. Von einem nachhaltigen Trauma also keine Spur.
Eine der Antworten für Julianes Survival-Fähigkeiten liegt sicherlich darin, dass sie von ihren Eltern im Umgang mit dem Dschungel eingewiesen worden war und er ihr deshalb keine Angst machte. Doch diese Erklärung allein reicht nicht. Mindestens genauso wichtig ist, dass Juliane – sie lebt und arbeitet heute als promovierte Zoologin in München – mit zwei wesentlichen Charaktereigenschaften ausgestattet ist, die nicht nur in extremen Krisensituationen das Leben zu verlängern helfen: Selbstdisziplin und Resilienz.
Die Disziplin lernte sie bereits in ihren frühen Kinderjahren. Ihr Leben war strikt durchorganisiert, denn anders war für ihre Eltern das Aufziehen eines Kindes im Dschungel gar nicht zu machen. Schon morgens früh ging Juliane mit ihrer Mutter, einer Ornithologin, in den Wald. Um sieben Uhr war
man wieder zuhause, dann gab es Frühstück. Später Schule, danach Schularbeiten. Zum Spielen beschäftigte sich Juliane hauptsächlich mit ihren Haustieren, etwa einem Nasenbär. Fernsehen gab es nicht, aber immerhin ein Radio und einen Schallplattenspieler, mit denen man die Abende gestaltete. Wenn man schließlich ins Bett ging, musste man es vorher stets mit der Taschenlampe absuchen, weil sich gerne Vogelspinnen darin versteckten. Die Giftschlangen lauerten hingegen vor allem draußen, im Dschungel. Doch auch das war für Juliane kein Problem: »Wenn man sich richtig verhält und konsequent die Gummistiefel anzieht und schaut, wo man hintritt, kann da eigentlich nichts passieren.«
Juliane hatte sicherlich ein ungewöhnliches, aber kein unglückliches Kinderleben. Sie lernte viel, und vor allem lernte sie, dass konsequentes Handeln das Überleben im Urwald sichern konnte. Deswegen ließ sie auch die Finger von dessen verführerischen Früchten, als sie nach dem Absturz hungrig durchs Grün stolperte. Aus psychologischen Experimenten weiß man mittlerweile, dass viele
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