Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Menschen bereits Probleme damit haben, die Befriedigung eines Bedürfnisses auch nur um eine Stunde zu verschieben. Einige schaffen es noch nicht einmal eine Minute lang. Juliane verzichtete trotz knurrenden Magens elf Tage lang darauf, sich am Dschungelobst zu bedienen.
Neben der Impulskontrolle war es aber auch ihre Resilienz, die der jungen Frau das Überleben sicherte. Als sie nach dem Absturz aus der Bewusstlosigkeit erwachte, waren ihre ersten Gedanken nicht etwa: »O Gott, wo bin ich?« oder »Was ist mit mir?«, sondern: »Ich hab’s überstanden.« Sachliche Bestandsaufnahme statt lähmender Angst zeichnete Juliane auch aus, als sie feststellte, dass sie nur noch einen Schuh an den Füßen hatte. Viele Journalisten schüttelten später den Kopf darüber, dass sie den nicht auch noch auszog, um mehr Gangsymmetrie für ihren Marsch durch den Urwald zu haben. Doch Juliane behielt ihn an: »Einen normalen Spaziergang kann man im
Dschungel ohnehin nicht machen.« Mit dem beschuhten Fuß setzte sie konsequent immer den ersten Schritt ins Gestrüpp, um sich vorzutasten und nicht ungeschützt auf irgendeinen Dornenast oder eine Giftschlange zu treten. Rationales Problemlösen in Kombination mit unerbittlicher Disziplin – so kommt man auch in der grünen Hölle zurecht.
Den Gipfel der Resilienz zeigte Juliane, als sie nach zehn Tagen das Boot und die Hütte gefunden hatte. Sie wusste ja nicht, wann und ob deren Benutzer überhaupt wiederkommen würden, ob sie also dort warten oder den Pfaden in den Dschungel folgen sollte, um die Leute zu finden. Aber in der Hütte fand sie einen Kanister Diesel, der ihr die Entscheidung abnahm. Denn Juliane hatte die Wunde am Bein, in der sich bereits zahlreiche Maden tummelten, »und das machte mir schon ziemliche Sorgen«. Zuhause hatte sie einmal beobachtet, wie ihr Vater dem Familienhund die Maden herauszog, indem er vorher die Wunde mit Petroleum bestrich. Also machte sie genau das Gleiche jetzt an ihrem Bein – nur eben mit Diesel. Es klappte. Die Insekten lösten sich, sodass Juliane sie entfernen konnte. Insgesamt 35 Maden holte sie aus der Wunde.
Ein 17-jähriges Mädchen, das einfach nur das Naheliegende tut, statt einer vagen Hoffnung hinterherzujagen – und sich fast drei Dutzend zuckende und krabbelnde Insekten aus dem Körper zieht. Wenn man bedenkt, dass einige Menschen schon wegen ihrer Speckröllchen oder eines eingewachsenen Zehnagels in Panik geraten, ist das ziemlich eindrucksvoll. Im Nachhinein stellte sich Julianes Entscheidung zudem als genau richtig heraus: Wenn sie in den Dschungel gegangen wäre, wäre sie ein bis zwei Tage später vor Erschöpfung gestorben.
Resilienz entscheidet aber nicht nur in extremen Notsituationen, sondern auch im normalen Alltag über die Lebenserwartung. Sie kann von Mensch zu Mensch ganz unterschiedlich ausfallen und dadurch auch sehr unterschiedliche
Auswirkungen auf das Sterbealter haben. Es gibt Menschen, die schieben schon den Blues, wenn ihre Aktienpakete mal für ein paar Wochen in Kurstälern wandeln, während andere selbst dann nicht ihre Lebensfreude verlieren, wenn sie an tödlichem Lungenkrebs erkrankt sind oder bei einer Katastrophe ihre Familie verloren haben. Aber es sind eben gerade nicht diejenigen mit den härtesten Schicksalsschlägen, die überdurchschnittlich früh sterben, sondern diejenigen, die schon bei Bagatellen nicht klar kommen. Weniger die Härte des Schicksals an sich als vielmehr der Umgang mit ihr entscheidet darüber, wie alt ein Mensch am Ende wird.
Diverse Studien belegen, dass Menschen körperlich und geistig umso fitter sind, je höher ihr Resilienzfaktor ist. Dies schlägt sich natürlich auch auf die Lebenserwartung nieder. Nicht umsonst leben extrem viele Hundertjährige in Japan, einem Land, dessen Bevölkerung nach der Tsunami- und Atomkraft-Katastrophe vom 11. März 2011 mit stoischer Ruhe beeindruckte. In einer chinesischen Studie reduzierte ein hoher Resilienzfaktor bei über 65-jährigen Senioren die Sterblichkeit um fast 16 Prozent. Und er beeinflusst die Lebenserwartung extrem alter Menschen, obwohl man bei denen ja davon ausgehen muss, dass sie schon beinahe alle Krisen hinter sich haben. Das Max-Planck-Institut für demographische Forschung ermittelte: Krisenfeste Senioren zwischen dem 94. und 98. Lebensjahr haben eine um 43 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit für das Erreichen ihres 100. Geburtstages als diejenigen ihrer Altersgenossen, die sich immer wieder und aus
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