Langweiler leben länger - über die wahren Ursachen eines langen Lebens
Papierkorb umzurempeln, statt hektisch auf unsere Computer-Tastatur einzuprügeln oder mit Kartoffelchips bewaffnet bis zur Besinnungslosigkeit vor dem Fernseher zu sitzen, sollen wir uns, so die Lehre der Achtsamkeit, aus der Getriebenheit des Alltags abseilen und unsere Aufmerksamkeit bewusst auf das aktuelle Erleben des Trivialen richten. Also beispielsweise darauf, wie wir aktuell atmen, was wir aktuell essen und wie wir uns aktuell fühlen. »Es geht darum, alles, was den Geist erreicht, erst einmal anzunehmen und nichts zu vermeiden«, erklärt der amerikanische Mediziner und Meditationslehrer Jon Kabat-Zinn. Also »Augen auf und dabei« statt »Augen zu und durch«. Das klingt logisch und stammt nebenbei aus dem Repertoire des Buddhismus, was natürlich der Achtsamkeit in unseren Breiten erst recht einen Beliebtheitsschub verschafft hat.
Demgegenüber haben Sorgen ein ziemlich schlechtes Image, und das hatten sie schon immer. Der Talmud sieht in
ihnen eine Seelenqual (»Krankheiten ermüden den Körper, Sorgen das Herz«) und trifft sich da mit einem salomonischen Spruch der Bibel (»So wie die Motten an Kleidern nagen und Würmer am Holz, so nagen die Sorgen am menschlichen Herzen«), in der an anderer Stelle auch noch unmissverständlich klargestellt wird: »Wer von euch kann durch Sorgen sein Leben auch nur um einen Tag verlängern? (...) Sorgen machen vorzeitig alt.« Die Philosophen hatten hingegen ziemlich wenig Sorgen mit den Sorgen, sie waren ihnen einfach zu gewöhnlich. So polterte Konfuzius: »Der edle Mensch ist in Frieden mit sich selbst; der Gemeine macht sich ständig Sorgen.« Die Denkerelite hat sich daher nicht sonderlich um sie gekümmert, was ja auch eine Art der Verachtung ist. Die Dichtkunst nahm sich der Sorge schon etwas mehr an, doch ihre Reputation wurde dadurch keinesfalls besser. So hielten Shakespeare (»Wo die Sorge wohnt, wird sich kein Schlaf finden«) und Ovid (»Sorgen sollte man nicht mit ins Bett nehmen«) sie für einen Schlafräuber, während Anselm Feuerbach sie als Ende der Kreativität (»Kleinliche Sorgen sind der Tod des künstlerischen Schaffens«) brandmarkte. Goethe hinterließ sogar einen ganzen Zitateschatz über die Sorge, in dem er ihre Heimtücke (»Die Sorge, die schleicht sich durchs Schlüsselloch hinein«) ebenso beklagt wie ihre Eigenart, den Blick zu verzerren: »Die Sorge verleiht kleinen Dingen einen großen Schatten.«
An solchen Einschätzungen hat sich bis heute nichts geändert. Mit speziellen Anti-Kummer-Büchern wie Sorge dich nicht, lebe (Dale Carnegie) und Lass die Sorge – sei im Einklang (Anselm Grün) kann man mittlerweile sogar Bestsellerlisten stürmen. Der allgemeine Tenor all dieser Statements lautet: Sorgen machen das Leben zur Plage und tragen zu seiner Verkürzung bei! Besser also, man hält sie sich vom Leib.
Doch trifft dieses vernichtende Urteil wirklich zu? Schon Sören Kierkegaard wusste: »Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben.« Womit der dänische Philosoph und Existenzialist aus
psychologischer Sicht völlig Recht hat. Denn wenn wir uns an unsere Kindheit erinnern, wie sich unsere Eltern um uns gesorgt haben, keimt in uns das angenehme Gefühl, dass man sich um uns gekümmert hat. Wer sich um etwas sorgt, der kümmert sich, der pflegt und behütet das Objekt seiner Sorge, er will, dass es gedeiht und es ihm gut geht, und wenn dieses Objekt der Sorge die eigene Gesundheit ist, sollte das logischerweise, zumindest vom Prinzip her, die Lebenserwartung eher erhöhen.
Außerdem sind Achtsamkeit und Sorge, auch wenn sie im Image überaus verschieden sind, im Alltag nicht voneinander zu trennen. In Meditationsratgebern mag es zwar sinnvoll sein, die Aufmerksamkeit von Interesse, Kummer und Ängsten zu befreien, doch im täglichen Gebrauch funktioniert das Gehirn genau anders herum: Es fokussiert gerade dann seine Aufmerksamkeit, wenn ihm etwas Sorge macht. Denn Sorge bedeutet, dass irgendwo eine potentielle Gefahr ist, vor der man sich oder jemand Nahestehendes, wie etwa seine Familie, schützen muss – und dazu gehört nun einmal, dass man seine Achtsamkeit hochschraubt. Weswegen achten Eltern darauf, dass ihre Kinder nicht von der Schaukel kippen? Und weswegen passen die erwachsenen Kinder auf, dass man mit ihren Eltern im Pflegeheim gut umgeht? Nicht aus interesseloser Neugier, sondern weil sie sich Sorgen machen. Wir sind immer dann am wachsamsten, wenn wir irgendwo eine Bedrohung für uns oder unsere Nächsten
Weitere Kostenlose Bücher