Lanze und Rose
Nagel, der aus einem Holzbrettchen ragte. Ziemlich simpel, aber ganz bestimmt sehr wirkungsvoll. Ich verzog das Gesicht.
»Hast du das fertiggestellt?«
»Ähem … ja.«
»Kannst du mir erklären, woher du den Nagel hast?«
»Vom Küfer, Madam.«
»Vom Küfer … Hmmm …«
Ich sah ihn an und setzte eine zweifelnde Miene auf.
»Aber Mr. MacStarken ist mit den anderen Männern fortgegangen. Wer hat ihn dir also gegeben?«
»Niemand, ich habe ihn mir … ausgeliehen.«
»Ausgeliehen?«
»Ich habe ihn nicht gestohlen.«
»Dann hattest du die Absicht, ihn zurückzubringen? Du weißt ganz genau, dass Nägel knapp sind.«
»Ja, sicher …«
»Wunderbar! Dann wirst du den Nagel nach der Schule zurückbringen. Da er den Zweck, den du ihm zugedacht hattest, nun erfüllt hat, wird er hier ja nicht mehr gebraucht, nicht wahr?«
»Nein, Madam.«
Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf seine rosige Zunge, die er seiner Schwester drohend herausstreckte. Die Jahre vergingen, aber nichts änderte sich, dachte ich und tat, als hätte ich nichts gesehen. Ich erinnerte mich, wie meine Kinder bei zahlreichen Gelegenheiten die gleiche respektlose Grimasse gezogen hatten.
»Gut, lasst uns mal sehen, was ihr abgeschrieben habt… Alex«, sagte ich und nahm das Blatt des Burschen, um das Thema abzuschließen. »Man schreibt adveniat regnum tuum und nicht regnam tum .«
»Mrs. Caitlin? Warum muss man all diese Gebete auswendig lernen?«
»Das Gebet ist eine Art, Gott zu ehren, Ihn um Verzeihung für unsere Fehler zu bitten, Ihm für seine Güte zu danken und Ihn zu preisen. In unserem Tal haben wir keinen Priester, nicht einmal eine Kapelle. Und irgendjemand muss euch die Gebete lehren !«
»Ich habe ja auch gar nichts gegen die Gebete, aber könnte man sie nicht auf Gälisch schreiben? Latein …«
»Ihr kennt sie alle auf Englisch und auf Gälisch. Sie auf Latein zu schreiben, ist die beste Methode, sie auswendig zu lernen.«
»Ja, aber wir sprechen doch gar kein Latein.«
»Das Latein ist die Sprache unserer Religion. Wir sind katholisch, daher beten wir auf Latein.«
»Wir könnten doch Gebetbücher auf Englisch haben … Ich habe einmal eines gefunden.«
»Das gilt für die Protestanten, Alex. Die Gebetbücher auf Englisch gehören zur presbyterianischen Kirche, der schottischen
kirk 26 . Die Protestanten beten zum selben Gott, aber … sagen wir einmal, auf andere Weise.«
»Wenn alle zum selben Gott beten«, schaltete sich Isaak ein, »warum zieht dann Papa in den Krieg, damit wir einen katholischen und keinen protestantischen König bekommen?«
»Weil er findet, dass König George ein Kretin ist, du Idiot«, versetzte Alice.
»Die Campbells von Glenlyon sind keine Katholiken, und trotzdem unterstützen sie den Prätendenten«, setzte Coll hinzu.
Ich seufzte. Dieses Mal war meine verzweifelte Miene nicht vorgeschützt.
»Eure Väter kämpfen nicht nur wegen einer Frage der Religion. Die Sache ist ein wenig komplizierter. Da geht es um Politik, um unterschiedliche Meinungen und alten Groll.«
»Und Ihr, Mrs. Caitlin«, wollte Isaak wissen, »was meint Ihr, welcher König über Schottland regieren soll?«
Einen Moment lang fühlte ich mich überrumpelt, doch ich nahm mich zusammen und versuchte, seine Neugier zu befriedigen.
»Also, ich weiß es nicht, Isaak. Ich glaube, ich wünsche mir vor allem einen König, der uns in Frieden leben lässt.«
Alex stieß ein kurzes, zynisches Auflachen hervor.
»Ich bezweifle, dass Ihr so einen findet! Solange man uns zwingt, uns den Sassanachs zu unterwerfen, wird man uns verfolgen. Ich sage, dass das gar nichts damit zu tun hat, dass wir Papisten sind. Wir sind Highlander, und deswegen hasst man uns so. Die Stuarts haben Feuer und Schwert über die Macdonalds von Keppoch verhängen lassen, und dabei sind sie auch Papisten.«
»Ja, und warum ziehen die Leute von Keppoch dann in den Krieg, um sie wieder auf den Thron zu setzen? Die sind doch verrückt!«
»Weil die Stuarts eine schottische Dynastie sind, mein lieber Isaak«, merkte ich an.
»Aha. Das ist aber wirklich ziemlich kompliziert, oder?«
»Ich erkläre es dir später, Alice.«
Ich warf Alex Macdonnell, Calums ältestem Sohn, einen kurzen Blick zu. Er war erst sechzehn, besaß jedoch schon die Statur eines Mannes. Äußerlich ähnelte er zwar eher seiner Mutter, doch in vielerlei Hinsicht erinnerte er mich an seinen Vater. Insbesondere hatte er seinen tief verwurzelten Hass auf die
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