Lanze und Rose
doch etwas hielt ihn zurück. Ein Arm schob sich unter den seinen und zwang ihn zum Aufstehen. Lasst mich doch in Ruhe… Immer noch stützte ihn der Arm.
Vergeblich versuchte er, ihn wegzustoßen.
»Du brauchst ein paar Stunden Schlaf, Liam. Der Whisky ist dir zu Kopf gestiegen.«
Whisky? Er nahm die Flasche und setzte sie erneut an. Adam schritt ein und hielt seinen Arm fest.
»Liam, das wird dir nicht guttun, glaube mir. Ich kann dir versichern, dass es ziemlich unangenehm ist, sich der Wirklichkeit mit einem scheußlichen Brummschädel zu stellen.«
Liam betrachtete seinen Schwager einen Moment lang, verzog vor Schmerz das Gesicht und stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Dennoch trank er noch ein paar Schlucke Alkohol. Vergessen … Diese Bilder nicht mehr zu sehen… Nicht mehr den Gestank der Schlacht an seinem Kleidern zu riechen, den Geruch nach Blut, Exkrementen und verbranntem Fleisch, der ihn umgab. All diese Gerüche waren da, unausweichlich, quälten ihn und hinderten ihn daran zu vergessen.
»Ich will nicht mehr aufwachen, Adam.«
Die Flasche glitt ihm aus den Fingern und fiel zwischen seinen Füßen zu Boden. Mit abwesendem Gesichtsausdruck betrachtete er die bernsteinfarbene, im Mondlicht schillernde Flüssigkeit, die im Gras versickerte. Ja, er wollte schlafen und nie wieder aufwachen. Adam bückte sich und hob die Flasche auf, die er Alasdair reichte. Dann sah er ihn ernst an.
»Liam, komm wieder zu dir. Ich erkenne dich gar nicht wieder.«
Um ehrlich zu sein, erkannte er sich selbst nicht wieder. Was geschah mit ihm? In der Vergangenheit hatte er schon ebenso erschütternde Tragödien erlebt: das Massaker an den Einwohnern des Tals, und er hatte Anna und Coll sterben gesehen, seinen Vater und Ginny, seine Schwester. Und jetzt Ranald und Simon.
Seine alten Dämonen kehrten zurück und verfolgten ihn. Er hatte nichts getan, um den Menschen, die er liebte, zu helfen. In seiner Erstarrung hatte er reglos zugesehen. Angesichts des Entsetzens war er nur ein nutzloser Beobachter gewesen. Alles war seine Schuld. Die Last des Gewissens erdrückte ihn, und sein Zorn raubte ihm den Atem. Seine Wut steckte ihm wie ein Klumpen in der Kehle, den er nicht auszuspucken vermochte und der ihn erstickte. Er war schuldig. Er hätte Anna und Coll am
Morgen des Massakers nicht alleinlassen dürfen. Er hätte irgendwie Decken auftreiben, sie mitnehmen und eine Zuflucht für sie finden müssen, wo er ein Feuer hätte anzünden und sie warm halten können. Und Ginny? Er hätte sich auf das Schwein, das seiner Schwester Gewalt antat, stürzen und ihm die Kehle durchschneiden müssen, statt mit offenem Mund zuzusehen. Die Beine versagten ihm den Dienst, und er schwankte. Adam hielt ihn fest und redete auf ihn ein, doch er hörte nicht mehr zu.
Simon … Er hätte verhindern müssen, dass der Arzt ihn amputierte. Sein Freund hatte recht gehabt. Mit einem Bein wäre er nie wieder derselbe gewesen, dazu kannte er ihn zu gut. Und vielleicht wäre er auch so wieder gesund geworden, wer wusste das schon? Aber er hatte sich geweigert, auf ihn zu hören. Und Ranald … Oh Gott! Alles war so schnell geschehen. Er hatte gesehen, wie der Dragoner seinen Sohn ins Visier nahm und schoss. Doch sein Schrei war ihm in der Kehle stecken geblieben. Er hatte ihn nicht vor der Gefahr gewarnt. Ranald war in den Unterleib getroffen worden. Dann der zweite Dragoner … Mit seinem Schwert… Er seufzte. Sein Magen drehte sich um. Wieder sah er, wie die Klinge den Körper seines Jüngsten durchbohrte, und spürte, vor Schmerz aufschluchzend, wie die mörderische Schneide ihn entzweihieb. Durch seine Untätigkeit hatte er seinen Sohn getötet. Er hatte sie alle umgebracht, diese geliebten Menschen, die er verloren hatte. Alle waren sie seinetwegen gestorben. Wenn er sich schon selbst nicht vergeben konnte, wie konnte er da erwarten, dass Caitlin ihm verzieh?
Von neuem zog sich sein Magen zusammen. Die Übelkeit überwältigte ihn, und er erbrach sich. Starke Arme hoben ihn auf und trugen ihn davon. Er fand sich auf irgendeinem Lager, in irgendeiner Ecke wieder. Ihm war es vollständig gleich, wo er sich befand. Er wollte nur schlafen, schlafen… Und nie wieder aufwachen.
Erspare dir zum Mindesten die Qual des Hasses;
wenn du schon nicht vergeben kannst,
dann vergiss.
Alfred de Musset
14
Der Bruch
Feuchter Schnee sammelte sich in den Ecken der Fensterscheiben. Mit dem Finger zog ich die Spur nach, die ein kleines Häuflein davon
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