Lanze und Rose
ragten, hingen am Sattel. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Liams Finger gruben sich in meine Haut. Ich versuchte zu schreien, doch ich bekam keine Luft in die Lungen. Mir war, als säße eine Eisenkugel in meinem Magen.
»Caitlin …«
Wahrscheinlich konnte er ebenfalls nicht sprechen. Von neuem sah ich zu ihm auf. Sein Blick gab mir die Antwort, die ich nicht wissen wollte. Langsam schüttelte ich den Kopf. Das tat weh … so weh. Seine Augen, die in Tränen schwammen, sagten mehr als Worte. Mir wurde schwindlig, und unter mir tat sich ein bodenloser Abgrund auf. Ich stürzte ins Leere, in ein entsetzliches Nichts. Doch zugleich versuchte ich mich an einen Gedanken zu klammern. Das ist nicht wahr! Ich träume … Das kann nicht wahr sein! Das Grauen erfasste und betäubte mich, während ich immer noch fiel.
»Neiiin!«
Mit einem Mal explodierte alles um mich herum, so wie ein Spiegel, der zerspringt und uns unser Spiegelbild tausendfach zersplittert zurückwirft. Tausend Fetzen meiner Seele flogen davon. Ich trommelte auf Liams Brust ein. Das war zu hart, um es zu ertragen. Immer weiter schlug ich auf ihn ein.
»Warum?«, kreischte ich. »Warum hast du sie nicht wieder mitgebracht?«
Ich vernahm ein Seufzen und öffnete die Augen.
»Es tut mir leid, Caitlin.«
»Doch nicht beide?«
»Duncan lebt.«
»Und Ranald … Ranald?«
Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Man hatte mir einen Sohn genommen. Ich krallte die Finger in den feuchten Stoff von Liams Plaid und riss heftig daran.
»Ich hatte dich gebeten, ihn zu beschützen, Liam … Du wusstest doch, dass er einen schwachen Rücken hatte. Aber du hast zugelassen, dass sie ihn erschlagen haben wie einen Hund.«
Er drückte mich heftig an seiner Brust und stieß an meinem Hals einen langgezogenen Klagelaut aus. So standen wir eng umschlungen da und beweinten unseren Sohn.
Reglos saß ich am Tisch und starrte auf die Stahlklinge von Ranalds Schwert. Wie lange schon? Ich hätte es nicht sagen können; die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Nein, das ist eine Illusion, Caitlin! Das Ticken der Pendeluhr hallte in meinem Kopf wider. Im flackernden Licht der Lampe blitzte die Klinge auf. Sie war mit dunklen Flecken übersät. Getrocknetes Blut und Rost. Ich schloss die Augen, um die Tränen zu unterdrücken und die albtraumhaften Bilder zu vertreiben, die vor meinem inneren Auge vorbeizogen wie ein böser Traum. Ich fühlte mich verloren. In meinem Kopf überschlugen sich unzusammenhängende Gedanken. Ich fantasierte. Warum gerade er? Wieso nicht Robin, Donald oder Alasdair? Ein unerträglicher Schmerz drückte mich nieder. Ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
Nun hatte ich ein zweites Kind verloren. Aber Ranalds Tod konnte ich nicht akzeptieren. Mit Stephen war das etwas anderes : Ich hatte ihn zur Welt gebracht, aber ich hatte nicht erleben dürfen, wie er aufwuchs. Er war für mich eine vage Erinnerung. Bestenfalls konnte ich hoffen, dass er noch lebte und in Sicherheit vor dem Elend und dem Wahnsinn der Menschheit war.
Durfte ich hoffen, dass er nichts mit dieser verdammten Rebellion zu tun hatte? Durfte ich darauf hoffen?
Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Eine Klinge bohrte sich in mich hinein, eine Klinge, die von Gott geführt wurde. Ich hatte den Eindruck, in Stücke gerissen zu werden. Gott hatte mich verlassen. Ich beweinte den Tod meines Sohnes. Was für ein Widersinn ! Im normalen Lauf der Dinge trauert ein Kind um seine Mutter, nicht umgekehrt. Wo mochte Ranald jetzt sein? Irrte seine Seele über die Heide von Sheriffmuir?
Mit einem Mal sah ich ihn wieder als Kind vor mir. Mit fünf Jahren vielleicht… Stolz wie ein Chief klettert er zum ersten Mal ohne Hilfe auf sein Pony. Mit zwei Jahren … Mit mürrisch verzogenem Gesicht sitzt er, umgeben von zwei Dutzend zerschlagenen Eiern, mitten in der Küche. Er hatte die Küken gesucht… Ich lächelte. Dann mit acht Jahren… das Gesicht verschwollen, von Kummer verwüstet. Unser Hund Seamrag war gestorben. Zwei Tage lang hatte er ununterbrochen geweint. Dann, am dritten Tag, war er zu mir gekommen. »Mama, Seamrag ist überall bei mir, auch wenn ich ihn nicht streicheln oder mit ihm spielen kann. Er wohnt jetzt in mir, in meinem Herzen.«
Ach, Ranald! Er hatte es gesehen. Er hatte verstanden, was ich mich zu sehen weigerte. Der Tod bedeutete nicht, dass jemand vollständig verschwunden war, sondern nur, dass er unsichtbar bei einem weilte. Der Tod
Weitere Kostenlose Bücher