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Lanze und Rose

Lanze und Rose

Titel: Lanze und Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sonia Marmen
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pfeifender Atem, der immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen wurde, wies mir den Weg. Auf allen vieren tastete ich mich voran und stieß schließlich auf einen kalten Berg aus Leder und Wolle.
    »Liam…«
    Ich schüttelte ihn leicht. Bei jeder Bewegung platzte mir fast der Schädel; vor Schmerz tränten meine blinden Augen. Rasch tastete ich Liams reglosen Körper ab. Seine Beine waren warm und seine Stiefel starr und mit Eis überzogen. Ich arbeitete mich zu seinem Brustkorb vor, der sich ruckartig auf und ab bewegte. Dann strich ich über seinen Hals, seine raue Wange und seine Stirn. Er glühte vor Fieber. Er war sehr krank. Von uns beiden ging es eindeutig ihm am schlechtesten.
    Und ohne Vorwarnung stiegen andere Bilder in meinem verwirrten Geist auf. Rotröcke, Soldaten. Schüsse. Jetzt erinnerte ich mich wieder. Eine Abteilung englischer Dragoner hatte uns überfallen. Ich hörte die Kugeln pfeifen und sah Colin, der sich mit einem ganz eigenartigen Gesichtsausdruck an der Mähne seines Pferdes festklammerte. Liam, wie er mich auf den Wald zustieß.
Dann rannte ich völlig außer Atem durch diese eisige Hölle, in der ich Himmel und Erde nicht zu unterscheiden vermochte. Später trat ich ins Leere, und ein Abgrund verschlang mich, zog mich erbarmungslos in sich hinab. Ich war in eine Schlucht gestürzt und hatte mir wahrscheinlich an einem Stein oder etwas anderem den Kopf angeschlagen.
    In meinem Gedächtnis rückte alles an seinen Platz und klärte sich, doch nun stieg ein ganz anderer Schmerz in mir auf. Mir brach fast das Herz. Wo war Colin? Und Donald? War Liam verletzt? Ich fuhr mit der Hand unter seine Weste und untersuchte seine Brust und seinen Unterleib. Das Hemd war weich und warm; und es war trocken. Als er meine eiskalten Finger spürte, zuckte er zusammen, und ein neuer Hustenanfall überfiel ihn. Seufzend ließ er sich auf den Rücken sinken.
    »Liam… Liam…«
    Aber warum konnte ich nichts sehen? Liam stöhnte und bewegte sich. Ich warf mich über ihn und bedeckte ihn mit meinem Körper und meinem Umhang.
    »Kannst du mich hören, Liam?«
    Wieder stöhnte er auf. Seine Finger strichen über meinen Kiefer und fielen dann schwer auf seine Weste zurück.
    »Caitlin…«, flüsterte er heiser.
    »Ich bin da«, versicherte ich ihm mit zitternder Stimme. »Ich bin bei dir, mo rùin . Du wirst wieder gesund…«
    Leise schluchzend vergrub ich mein Gesicht in seinem Hemd. Ich beweinte unser Schicksal, unser Unglück, das kein Ende nehmen wollte, unseren Kummer. Ich verfluchte diesen Aufstand, der unser Leben zerstörte. Ich schmähte diesen König, für den unser Sohn gestorben war. Ich lästerte diesen Gott, der mich verlassen hatte und sich meinem Flehen gegenüber taub stellte.

    Durch meine geschlossenen Lider nahm ich einen schwachen Lichtschein wahr. Unter meiner Wange pfiff und keuchte Liams Atem. Ich öffnete die Augen und richtete mich langsam auf. Ich konnte sehen… Ich konnte wieder sehen! Eine Steinmauer. Eine eingedrückte Tür, durch die grelles Licht eindrang. Über mir befanden sich Holzbalken, die mit Vogeldreck bedeckt waren.
Das kegelförmige Dach war an einigen Stellen durchbrochen, so dass der blaue Himmel zu sehen war. Der Grundriss des Bauwerks war zylindrisch. Ein Broch 41 oder vielleicht ein Taubenschlag?
    Ich sah mich in dem Raum um, dessen Durchmesser fünf oder sechs Schritte betragen mochte. Mir blieb fast das Herz stehen, und ein Schrei steckte mir in der Kehle, als ich unsere Pferde entdeckte. Über einem der Sättel lag ein regloser Körper, der mit dem Plaid von Glencoe bedeckt war. Doch ich erkannte sofort das blonde Haar, das darunter hervorlugte. Colin… Oh nein, Colin! Der Himmel hatte es wirklich auf uns abgesehen und überhäufte uns mit grausamen, unverdienten Prüfungen. Warum nur, warum?
    Ich wandte den Blick ab und legte den Kopf wieder auf Liams Brust. Er schlief; sein Herz schlug direkt unter meiner Wange. Behutsam legte ich die Finger auf die feuchte, glühend heiße Haut an seinem Hals. Kummer, Zorn, Verbitterung überschlugen sich in mir. Was hatten wir denn so Schreckliches getan, um all das zu verdienen?
    Liams mühsamer Atem stieg als feine weiße Wolke auf, die sich auf seinem mehrere Tage alten Bart niederschlug. Seine bleichen, aufgesprungenen Lippen bewegten sich leicht.
    »Liam…«, rief ich ihn leise an.
    Er zuckte zusammen und schlug dann stöhnend und verstört die Augen auf. Ich beruhigte ihn mit einer Liebkosung. Er fieberte hoch.

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