Lanze und Rose
seinem eigenen Gewicht, doch die zwei Burschen hielten ihn fest.
»Was habt Ihr vor?«
Lucas reichte mir die Zügel eines unserer Pferde. »Wir bringen Euch zur ban-drùidh . Sie wird wissen, was zu tun ist.«
»Die ban-drùidh ?«
»Die Hexe. Sie besitzt magische Hände«, sagte er, ohne weitere Erklärungen abzugeben.
Die Hexe, wie diese braven Männer sie nannten, bewohnte eine kleine Kate, die oberhalb eines steilen Hangs lag. Nur ein einziger Weg führte dorthin; und den fand man wahrscheinlich nur, wenn man wusste, wo man zu suchen hatte. Liam war zu schwach, um sich im Sattel zu halten, daher hatten wir ihn einfach quer darüberlegen müssen. So führten wir die beiden Brüder davon wie gemeine Hafersäcke; der eine im Tod erstarrt, und der andere … Ich mochte gar nicht daran denken.
Als wir endlich dort waren, stieg Lucas von seinem Pferd und ging mit zögernden Schritten auf die Hütte zu. Ich schickte mich an, es ihm nachzutun, doch Paddy hielt mich mit einer Handbewegung zurück.
»Wartet noch, Madam«, sagte er, während er die Hütte, aus deren Kamin beißender schwarzer Rauch aufstieg, im Auge behielt. »Zuerst müssen wir uns vergewissern, dass die Hexe sich überhaupt um ihn kümmern will.«
»Nun gut.«
Nach einigen Augenblicken entschloss sich Lucas, an die Tür zu klopfen, und wich gleich wieder einen großen Schritt zurück. Unruhe stieg in mir auf. Diese gut bewaffneten und ziemlich kräftigen Männer schienen die Frau zu fürchten. Ob sie wohl den bösen Blick besaß?
Langsam öffnete sich die Tür. Eine kleine, in ein Umschlagtuch gehüllte Gestalt kam aus dem Dunkel hervor. Als die Frau Lucas erkannte, trat sie ins Tageslicht und nahm das Tuch ab. Sprachlos stand ich da. Statt der alten Vettel mit spitzer, von Warzen bedeckter Nase, die ich erwartet hatte, sah ich eine junge Frau von überirdischer Schönheit. Das ist keine Hexe, sondern eine Fee!
»Wir haben hier einen kranken Mann, Madam Beatrix«, erklärte Lucas ein wenig verlegen.
Ich hatte das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Die Männer hielten den Atem an, als das feenhafte Wesen auf uns zuglitt. Sie schwebt! Gänsehaut überlief mich, und ich hielt ebenfalls die Luft an, als sie ihre weißen Hände auf Liams Körper legte. Ich ertappte mich dabei, dass ich innerlich ein christliches Gebet aufsagte. Mit vor Konzentration angespannter Miene strichen ihre Finger über seinen Rücken und seine Schläfen. Dann nickte sie.
»Bringt ihn nach drinnen«, befahl sie mit sanfter Stimme.
Sofort sprangen Paddy und Quinton ab. Die junge Frau wandte sich zu mir um und lächelte. Wenn sie wirklich eine Hexe war, dann musste sie das Geheimnis der ewigen Schönheit kennen. Ihre Porzellanhaut wirkte wie von innen erleuchtet. Langes, wildes Haar, das von einem so hellen Blond war, dass es beinahe weiß wirkte, wallte um ihr schönes, ovales Antlitz, in dem ein Paar blauer Augen strahlten, deren Farbe an Aquamarin erinnerte. Ihr dunkelroter Mund war rund und voll wie bei einem Cherub. Ich fragte mich, was diese Männer am meisten fürchteten, ihre angeblichen Kräfte oder ihre Schönheit. Vielleicht war ja beides untrennbar miteinander verbunden.
»Ich nehme an, Ihr seid seine Frau?«, fragte sie mich.
»Ja…«, antwortete ich ein wenig verunsichert. »Mein Mann hat hohes Fieber, und ich fürchte…«
»Es sind seine Lungen«, erklärte sie unvermittelt. »Euer Gatte leidet an einer Lungenentzündung.«
»Oh! Woher wisst Ihr …?«
Ihr hübscher Mund verzog sich zu einem verschmitzten Lächeln.
»Kommt herein, es ist kalt. Wir werden noch genug Zeit haben, Bekanntschaft zu schließen.«
Es war Nacht geworden. Wir saßen vor einer Tasse heißem Kamillentee. Liam lag auf einem Strohsack in der Nähe des Kamins und schlummerte unruhig. Er hatte nicht ein einziges Mal die Augen geöffnet, während wir ihn entkleidet und gewaschen hatten, nur mehrmals unzusammenhängende Worte gemurmelt. Dann hatte Beatrix, wie ich sie nennen sollte, ihn mit einer grünlichen Salbe eingerieben, die stark nach Kampfer roch. Und zum Schluss hatte sie ihm mit dem Löffel einen Sud aus weißem Andorn und Blättern von Ysop und Alant eingeflößt.
Während sie ihn behandelte, hatte ich sie nicht aus den Augen gelassen. Ihre Bewegungen waren zupackend, rasch und präzise. Ich hatte bemerkt, dass sie häufig die flachen Hände auf Liams Brust legte. Zu Beginn hatte mich das verdrossen. Doch dann war mir wieder eingefallen, was Lucas gesagt hatte:
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