Lass den Teufel tanzen
unweigerlich die »Schandmaske« nach sich zog. Und das sah folgendermaßen aus: Hatten die Schwestern den Fehltritt erst einmal entdeckt, wurde der Schuldige – oder vermeintlich Schuldige – dazu verurteilt, an eine Art Pranger gestellt zu werden. Ein anderes Kind, in der Regel der Klassensprecher, wurde von der Nonne beauftragt, in ein gewisses Kämmerchen zu gehen und die allseits gefürchtete »Schandmaske« zu holen. Den Weg zum Kämmerchen legte der Klassensprecher nur widerwillig zurück, denn er trug auf seinen Schultern die Last von jemandem, der eine bevorzugte Stellung erlangt hatte und der, sei es auch nur, um sich jenes Privileg zu erhalten, gezwungen ist, Dinge zu tun, die ihm zuwider sind.
Keiner der Klassensprecher, die ausgeschickt wurden, um einen derart gemeinen Auftrag auszuführen, hatte jemals die Vorahnung, er könne sich im Lauf seines Lebens noch öfter in einer solchen Situation befinden.
Bei den Foltermasken, die die Nonnen vor Jahren in einem muffigen Kellerladen erstanden hatten, handelte es sich um Gesichtsmasken aus Karton, die ein Schwein oder einen Esel zeigten. Unansehnlich geworden durch den Staub und den Rotz, der bei jeder Anwendung darin hängen blieb, lagerten sie in dem Kabuff, aus dem sie dann bei Bedarf geholt wurden. Je nach Schwere des begangenen Vergehens fiel die Wahl auf das Schwein oder den Esel. Die Nonnen nannten die Masken »Schweinchen« oder »Eselchen«, während sie bei den Kindern »Dreckschwein« oder »dummer Esel« hießen. Im Grunde lief es so, dass der schuldige Schüler die Maske aufsetzen und dann in Begleitung des Klassensprechers in das Zimmer der Mädchen gehen musste, die die gleiche Klassenstufe besuchten wie er. Dort wurden die Mädchen von der Lehrerin dazu angehalten aufzustehen und den Unglückseligen im Chor zu beleidigen, indem sie ihm »Schweinchen« oder »dummer Esel« zuriefen. Wenn sich unter den Schülerinnen auch noch eine befand, in die der Delinquent insgeheim verschossen war, bissen ihn die Scham und die Demütigung mit noch schärferen Zähnen und ließen ihn mehr bluten als andere.
Es war eine Strafe, die Severino, ohne dass er genau hätte sagen können, warum, an all die Geschichten erinnerte, die sich die Leute in Mangiamuso darüber erzählten, was sie im Krieg gemacht hatten, über die Orte, an die man Menschen gebracht hatte, um ihnen schreckliche Dinge anzutun, um sie zu quälen und in Öfen zu verbrennen, Dinge, von denen die Leute manchmal nicht wollten, dass die Kinder sie hörten. Ihm jedoch sollte diese Art von Strafe nie widerfahren. Er hatte nämlich schon bald begriffen, dass es viel besser
war, das zu nutzen, was das Kloster ihm bot. Das heißt, er fing an zu lernen. Schwester Addolorata beschützte ihn. Sie weihte ihn in die Freuden des Lesens ein und suchte für ihn Bücher aus, von denen sie nicht einmal im Traum gedacht hatte, sie würde sie einmal mit einem der Schüler lesen.
Schon bald hörte Severino auf, den Dialekt von Mangiamuso zu sprechen, und hatte ihn durch ein wundervoll flüssiges Italienisch ersetzt, das die Nonnen zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss. Es war ihm nur ein leichter salentinischer Akzent geblieben, der ihn die Worte etwas hart betonen ließ. Andererseits passte die spröde Aussprache ausgezeichnet zu seiner hageren, muskulösen Gestalt, die ihm, wie Schwester Addolorata gesagt hatte, als sie ihn das erste Mal sah, Ähnlichkeit mit einem kleinen Wolf verlieh. Und in den Augen seiner Schulkameraden, die allesamt aus Neapel und Umgebung waren, haftete diesem kleinen Wolf aus dem Salento tatsächlich etwas vage Exotisches, Fremdes an.
Einmal jedoch geschah etwas Außergewöhnliches: Ein Mädchen mit der Eselsmaske auf dem Gesicht wurde in ihre Klasse gebracht. Es entzog sich völlig Severinos Vorstellungskraft, was für Missetaten dieses Mädchen vollbracht haben mochte. Alle wussten, dass die Mädchen viel braver und viel fleißiger waren, dass sie sich wuschen und keine schlimmen Wörter sagten. Und nun? Die ganze Klasse war aufgesprungen, als die Äbtissin höchstpersönlich eintrat und das Eselsmädchen am Arm hinter sich herzog. Doch während die anderen die Gepflogenheiten des Rituals befolgten und im Chor »Dummer Esel, dummer Esel, dummer
Esel« schrien, die Gesichter erregt und verängstigt zugleich, hatte Severino den Blick abgewandt und aus dem Fenster geschaut, das auf den zu jenem Zeitpunkt vollkommen verwaisten Garten hinausging. Es würde noch viele Jahre dauern
Weitere Kostenlose Bücher