Lass den Teufel tanzen
Welt, in die einzutreten ein Kind nicht einmal in Betracht ziehen durfte – und deshalb taten ihm die Schläge auch gut!
Da war es sowieso besser, keine Eltern zu haben, dachte Severino.
Severino hatte rasch begriffen, dass die Familien zu Hause und die Schwestern in der Schule eine echte Gemeinschaft
bildeten, die nur ein einziges Credo kannte: den Willen eines jeden Kindes zu brechen, mit dem Ziel, es so schnell wie möglich zu etwas zu machen, das nicht mehr so war wie all die anderen Kinder auf der Welt, sondern klar und unverkennbar wie ein Erwachsener. »Aber wozu das alles?«, fragte sich Severino. »Wer Kind ist, ist es doch aus gutem Grund!« Zu Severino sagten sie, er sei ja jetzt schon ein junger Mann und bestimmte Sachen dürfe er nicht mehr tun. Laufen durfte er nicht, nicht schwitzen, nicht in der Nase bohren oder die Stimme erheben – als ob die Erwachsenen nicht schwitzen, nicht laufen, sich nicht den Finger in die Nase stecken oder schreien würden, wenn es ans Streiten ging. Jedenfalls, wenn das so war, dann wollte er, Severino, auch all die Freiheiten haben, über die ein Erwachsener verfügte.
Das alles dachte Severino während jener ersten Wochen im Internat. Er sah die anderen Kinder, die alle möglichen Sachen anstellten. Sie prügelten sich, manchmal bis ihnen das Blut aus der Nase spritzte, sie kotzten die Nudeln mit Kichererbsen wieder aus, bekleckerten ihre Hefte mit Tinte und machten oft nachts ins Bett. Und die Schwestern verprügelten sie. Je nach Schwere der begangenen Verfehlung ließen sie sie zur Strafe hinter der Schultafel knien, auf dem Boden oder, was entsetzlich wehtat, auf rohen Kichererbsen. Manchmal mussten die Uneinsichtigsten unter diesen Kindern auch noch während des Kniens die Hände auf dem Kopf falten und so, reglos und schweigend, gar drei oder vier Stunden verharren. Am allermeisten gefürchtet war jedoch die Strafe, die die Jungen »Schandmaske« nannten. Eine Strafe, wie sie sich Severino unter all den Quälereien nicht schlimmer hätte vorstellen können.
Dazu muss man wissen, dass es unter den tausend Dingen, die das Kloster für die Fantasie seiner männlichen Zöglinge bereithielt, neben all den riesigen Sälen, dem Halbschatten, den Weihwasserbecken und den streng verbotenen Erdbeersträuchern eines gab, das die jugendlichen Gehirne besonders auf Trab hielt: die Klassen der Mädchen. Das Kloster war in Hufeisenform gebaut, genauer gesagt in Form eines Us mit geraden Kanten. Der eine Seitenflügel beherbergte die Klassenräume der Jungen, der andere Trakt die der Mädchen, was bedeutete, dass sie durch den Mittelteil vollkommen voneinander getrennt oder, je nach Blickwinkel und Umstand, miteinander verbunden waren. Der mittlere Bau bot einen gemeinsamen Bereich, zu dem der Korridor, das Refektorium und der Salon gehörten, wo die Nonnen den Kindern reicherer Eltern, denen diese ultimative Form der Pein von ihren Erzeugern auferlegt wurde, Klavierunterricht gaben. Jedenfalls mussten Jungen und Mädchen getrennt bleiben, streng und ausnahmslos. Auch während der halbstündigen Pause, wenn alle Klassen in den Garten hinausdurften, der sich in der Mitte des Us befand, erlaubten die Nonnen nur den Jungen herumzutollen oder im vorderen Teil des Gartens ein wenig mit dem Ball zu kicken, während die Mädchen ganz hinten in kleinen Gruppen zusammenzusitzen hatten, um sittsam die von zu Hause mitgebrachten Brote zu verzehren. Diese eingeschränkte Bewegungsfreiheit wurde jedoch durch die Tatsache wettgemacht, dass die Mädchen sich den verführerisch rot gesprenkelten und duftenden Sträuchern mit Walderdbeeren nähern durften, welche die Nonnen mit ebenso großer Hartnäckigkeit wie Erfolg züchteten und an denen
sie, wie Severino fand, mehr zu hängen schienen als an ihrer eigenen Berufung zur Braut Christi.
Man kann sich vorstellen, dass diese beständige Zwangstrennung in den Köpfen der Jungen die aufregendsten und unwahrscheinlichsten Fantasien darüber hervorrief, was an jenen Mädchen so erstaunlich und schrecklich sein mochte, dass sich niemand ihnen nähern durfte. Severino hätte seine Hand dafür ins Feuer gelegt, dass alle Jungen diesbezüglich die gleichen Fantasien hegten, während es ihnen ein unergründliches Geheimnis blieb, was wohl umgekehrt die Mädchen über sie dachten.
Die Nonnen wiederum schienen es ganz genau zu wissen, und so kam es, dass jedes Mal, wenn sich ein Zögling ein besonders schlimmes Vergehen zuschulden kommen ließ, dies
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