Lass den Teufel tanzen
pizzicò la tarantella
Sotto la putía de la vunnella. 9
Gegen Mittag hat Donna Aurelia mit dem Singen aufgehört, und Filomena hat den großen Teller mit dem Pferdefleisch mitten auf den Tisch gestellt. Der Barbier, der Makler und der Polizist haben sich mit den weißen Handtüchern, die sie sich über die Schultern gelegt hatten, den Schweiß von der Stirn gewischt und begonnen, das geschmorte Pferdefleisch zu verzehren, ohne etwas zu sagen, doch mit den ergriffenen Mienen von Priestern, wenn sie ein Kind taufen oder zwei Brautleute vor dem Altar stehen haben. Archina hat sich auf das Feldbett gelegt, gegessen hat sie nichts. Gegen drei, als die Hitze von draußen unerträglich geworden ist und alle in die frische Kühle der Wohnhöhle zurückgekehrt sind, hat die Musik wieder eingesetzt.
Santu Paulu meu de le tarante
Pizzichi le zitelle dint’ all’ anche
Pizzichi le zitelle dint’ all’ anche
E le fai sante, e le fai sante. 10
Jetzt verfolgt Filomena ganz konzentriert das Spiel der Geige, denn das ist das Instrument, das sie am liebsten hört.
Hierzulande ist meistens derjenige, der in der Kunst der Musik die Geige spielt, im gewöhnlichen Leben Barbier. Vielleicht liegt das daran, denkt Filomena, dass der Geiger, wenn er mit dem Bogen über die Saiten streicht, eine ähnliche Bewegung macht wie der Barbier, wenn er sein Messer
am Streichriemen schärft. Einmal hat Filomena den Salon von Don Vincenzino betreten, um ihrem Vater, der sich dort rasieren ließ, ein Päckchen Schnitttabak zu bringen. Der Barbier stand mit dem Rücken zu ihr und schärfte gerade sein Messer. In Filomenas Augen sah es so aus, als spielte er auf seiner Geige.
Dann näherte sich der Barbier Nunzio, der vor einem Spiegel auf einem verstellbaren Ledersessel saß, das Handtuch auf der Brust wie ein riesiges Lätzchen, und begann ihn zu rasieren. Am Schluss riss Don Vincenzino, nach einem letzten schwungvollen Strich, mit der Theatralik eines Magiers dem Vater das Handtuch vom Hals, rief »Fertig!« und beugte sich über ihn, um ihn im Spiegel zu bewundern, als posierten die beiden für ein Foto. An diesem Punkt machte ihr Vater die Augen auf, die er offenbar für die gesamte Dauer der Rasur geschlossen gehalten hatte, und betrachtete sich. Da hatte Filomena für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, anstelle ihres Vaters einen Fremden zu sehen. Einen Unbekannten, der sich zusammen mit dem Barbier für ein Foto in Positur setzte, einen Menschen, über den sie rein gar nichts wusste, einen Fremden auf der Durchreise, der ebenso gut auch vom Mars hätte kommen können. Und sie hatte den Eindruck, auch ihr Vater erkenne sich nicht wieder.
In jenem Sekundenbruchteil schien die Welt Filomena und, wer weiß, vielleicht auch ihrem Vater in ihrer Gänze nichts anderes zu sein als ein Karussell, das sich in weiter Ferne dreht.
Indessen legt sich Don Luigi an seiner Ziehharmonika ordentlich ins Zeug und lässt die Muskeln seiner Arme spielen. Er zieht den Balg weit auf, um möglichst viel Luft hereinzulassen, und wenn er ihn dann wieder zusammendrückt, wird all die Luft wieder ausgestoßen und hat sich in Musik verwandelt.
Und die Gitarre? Die ist nichts anderes als ein ausgehöhltes Stück Holz, über dem man mehrere Schafdärme aufgespannt hat, denkt Filomena. Und doch gefällt ihr der Klang, mehr und mehr lässt sie sich von den bebenden Tönen der Saiten einhüllen, die sie zum ersten Mal in ihrem braven Milchkuhleben erahnen lassen, dass es eine Welt geben könnte, in der auch eine unscheinbare junge Frau wie sie darauf hoffen kann, geliebt zu werden. Ihre Mutter hat sie geliebt, als sie noch am Leben war. Doch jetzt ist ihre Mutter nicht mehr da.
Indessen hat Donna Aurelia ihr gesungenes Zwischenspiel beendet, und die Geige übernimmt mit ihrer quietschenden, rhythmischen Stimme erneut die Führung über die anderen Instrumente. Die Musik wird schneller. Vincenzino Epifani beugt sich im Spiel zu Archina hinunter, damit sie ihn besser hört, als wollte er sagen: »Diese Musik ist nur für dich, du tanzende Tarantel.« Jetzt ist die Musik kraftvoll und laut geworden, alle in der kühlen Küche schwitzen.
Filomena starrt wie im Zauberbann auf den Geiger. Die Bewegung des Arms, das leichte Streichen des Bogens über die gespannten Saiten. Plötzlich muss sie bei dieser Bewegung an noch etwas anderes denken. Eine Geste, die sie vor so langer Zeit, als sie noch in Procida waren, den Arzt hat machen sehen, als er ihre Mutter bei
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