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Lass den Teufel tanzen

Lass den Teufel tanzen

Titel: Lass den Teufel tanzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Teresa De Sio
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einem ihrer vielen seltsamen
Anfälle aufsuchte. Mit einem kleinen chirurgischen Messer öffnete er damals am Arm ihrer Mutter eine Vene, damit, wie er sagte, das Blut herausströmen könne und mit dem Blut die Krankheit. Er nannte das »Phlebotomie« oder »Aderlass«. Jetzt hat Filomena den Eindruck, als wäre die schneidende Bewegung, die der Bogen über der Violine macht, genau die gleiche wie die des Arztes, wenn er mit dem Messerchen an der Armbeuge der Mutter in die Vene schnitt. Da kommt Filomena folgender Gedankengang: Ebenso wie damals das Blut stoßweise aus den Adern ihrer Mutter floss, damit den Blutkreislauf entlastete und die bösen Säfte aus ihr herausspülte, gibt jetzt die Geige die Musik von sich, wie ein Brünnlein, ein einziges Fließen und Wogen. Und mit der Musik verlässt auch all das Gift den Körper ihrer Schwester, wie ein unsichtbarer Strom, der dieser gequälten Seele Erleichterung verschafft, der Archina von der Spinne befreit, welche Besitz von ihr ergriffen hat.

    Archinas Körper hebt und senkt sich über dem Boden, und statt steif und spröde zu sein wie zu Beginn, ist er jetzt heiß und biegsam, während er sich krümmt, ganz weich und feucht, ohne Kontur, ohne Substanz. Auch einige der Anwesenden spüren diese Verwandlung. Die Küche ist erfüllt von Dingen, die man nicht in Worte fassen kann. Dieser ganze Schmerz … Und wem soll man auch davon erzählen? Von all dem, was ein Geheimnis ist, ohne Erlösung, ohne Rettung, all den unheilbaren Krankheiten, wenn die Schafe sterben, wenn die Flüsse austrocknen und kein Wasser mehr führen oder wenn ein plötzlicher Hagel die Ernte zerstört. Wer weiß, ob der Sommer dieses Jahr trocken sein wird … Wenn
du nicht mal mehr Geld hast, um dir etwas zu essen zu kaufen, oder wenn der Vater dir wehtut – wem willst du das erzählen? Und einen Arzt, der so gut ist, dass er dich heilen kann, den gibt es gar nicht, dabei hast du schon so viele Tränen geweint, dass dir die Augen ganz trocken und wund geworden sind, und es gibt auch keine Heiligen oder Messen, bei denen du all deinen Kummer loswerden kannst.
    Jetzt scheint das weiße Laken zur Arena geworden. Archina ist der Torero, der auf den Einlass des Stiers wartet. Oder sie selbst ist der blutende Stier, in den die Tigerin ihre Pranken geschlagen hat, und die Tigerin lauert draußen im Gebüsch, wild und gierig.

    Viele Jahre später, an einem der ewig gleichen und ruhigen Nachmittage, die ihr Alter kennzeichneten, würde Filomena in genau dieser Küche, wo einst der Spinnenteufel und Archina, eingehüllt in den Geruch nach Pferdefleisch, getanzt hatten, mit einer jungen Forscherin aus der Stadt zusammensitzen, die sie gebeten hatte, sich an die Zeit zurückzuerinnern, als in Mangiamuso noch die Taranteln bissen und man die Tarantella brauchte, um die Gebissenen wieder gesund zu machen. Filomena würde sich mächtig anstrengen, um das, was ihrer Familie in jenen Tagen Ende Juni, an denen ihre Schwester Archina, die Verrückte, zu tanzen begonnen hatte, widerfahren war, noch einmal in sich aufleben zu lassen. Sie würde die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen, der Sichtweise einer sanftmütigen Milchkuh, die es nicht gewohnt ist, ihr Urteil über die Sonderbarkeiten der Welt abzugeben. Es würde eine Version der Geschichte sein, die ohne Schuldige und ohne Opfer auskam. Das Leben, so
wie es geschehen war. Doch während sie in das Aufnahmegerät der jungen Interviewerin gesprochen hatte, würden ihr Einzelheiten wieder einfallen, von denen sie geglaubt hatte, sie seien in ihrer Erinnerung für immer verloren gegangen. Zum Beispiel würde sie eine Ähnlichkeit zwischen dem Gesichtsausdruck ihrer Besucherin und dem Blick jener beiden Fremden entdecken, die vor so vielen Jahren fast unbemerkt eingetreten waren und die ganze Zeit in einer Ecke der Küche gestanden hatten, wie die Pilger in Lourdes, um alles zu beobachten. Und sie würde auch, weil Filomena nämlich zwar die Sanftmut in Person, aber weder dumm noch geistesabwesend war, bemerken, dass diese junge Frau von heute, anders als jene Fremden von damals, die ihr wie Kinder vor einem riesigen Serviertablett voller Krapfen erschienen waren, eine arrogante, fast hochmütige Art hatte, wie eine kleine Herrin, die sich das nimmt, was ihr zusteht. Aus diesem Grund würde Filomena auch im Lauf des Gesprächs beschließen, die Blätter für die stramunella , um die die junge Frau sie gebeten hatte, durch ganz gewöhnliche Blätter irgendeines

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