Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
Nachdem jahrzehntelang die Kindheit, das mögliche Infektionspotential und die moralische Integrität der Prostituierten wissenschaftlich und medial ausgeleuchtet wurden, richten sich inzwischen auch vereinzelte erkenntnistheoretische Lichtkegel auf die Nachfrageseite. Doch die Wissenschaft betreibt, wenn überhaupt, nur punktuelle Grundlagenforschung, denn die andere Seite der Gleichung, deren Vertreter - wie Oswalt Kolle einmal vorschlug - eigentlich
»Prostituanden« heißen müßten, rückte erst mit dem Aufkommen von AIDS, dem in den USA allgegenwärtigen Gender-Diskurs und einem neuen Täter-Opfer-Denken im Namen der »political correctness«
weltweit verstärkt ins Visier der Wissenschaft. Da es eine Reihe gesellschaftlich relevanter Gründe gab, sich alte Fragen neu zu stellen, flössen plötzlich Forschungsgelder. Und ebenso plötzlich erhalten wir Antworten, die Klischees und ideologisch motivierte Positionen ins Reich der Mythen verbannen. Zum Beispiel:
Klischee Nr.11:
Heute gehen mehr Männer zu Prostituierten
als früher.
In seinem 1948 erschienenen Bestseller Sexual Behavior in the Human Male schätzte Alfred Kinsey, der Pionier der modernen amerikanischen Sexologie, daß 69% aller männlichen Amerikaner irgendwann in ihrem Leben eine Prostituierte aufsuchten. Neuere amerikanische Untersuchungen sprechen nur noch von 16%.34
Angesichts der allgemeinen Sittenlockerung scheint dieser Rückgang erstaunlich. Doch gerade die Auswirkungen der sexuellen Revolution werden von Experten als Grund für die Abnahme von Prostitutions-kontakten gewertet. Seit den sechziger und siebziger Jahren ermöglichen eine entspanntere Sexualmoral und moderne Verhütungs-methoden den Frauen vorehelichen Sex ohne Ehrverlust, und junge Männer erleben ihr »erstes Mal« in der Regel mit einer Privatpartnerin anstatt mit einer Prostituierten. Höhere Scheidungsraten, gelockerte Einstellungen zur Treue, das Aufkommen von Swinger-Clubs, Seitensprungagenturen, Telefon-und InternetSex haben private und kommerzielle Alternativen zur Prostitution geschaffen.35 Resultat: Die Anzahl der Männer, die gleichzeitig Freier sind, ist in den letzten Jahrzehnten zumindest in der westlichen Welt tendenziell rückläufig.
Zwischen 1989 und 1996 la g der Freieranteil an der Gesamtbevölkerung in Großbritannien bei 6,6%, in Schweden bei 12,7%, in den Niederlanden bei 14,3%, in der Schweiz bei 18,7% und in Spanien bei 38,6%.36 Unter Prostitutionsforschern ist seit langem bekannt: Die Anzahl der Männer, die gleichzeitig Freier sind, ist in konservativen Kulturen mit repressiver Sexualmoral immer höher als in durchsexualisierten Gesellschaften, in denen Frauen gleiche Rechte genießen und sich die traditionelle Doppelmoral allmählich auflöst.
Doch auch in letzteren finden sexuelle Tauschgeschäfte ihren festen Platz in der Alltagskultur.
Hierzulande ging die letzte große Freierstudie von Dieter Kleiber und Doris Veiten von einem Prostitutionskundenanteil von 18% der sexuell aktiven männlichen Bevölkerung aus.37 Hurenprojekten zufolge nutzen allein in Deutschland täglich 1,2 Mio. Männer die Dienste von Sexarbeiterinnen. Demnach wären zwei von drei Männern prostitutionserfahren.38 Experten bezweifeln dies jedoch, und die Daten aus vergleichbaren Ländern geben ihnen recht. Aber unabhängig davon, ob ein knappes Fünftel oder zwei Drittel der Männer für Sex zahlt (ob szenefremde Forscher die Daten durch statistisch korrekte Stichproben oder Insider durch Gedanken-experimente erhoben haben) - das eigentlich Verblüffende an den Ergebnissen der neuesten Untersuchungen ist zum einen, daß die Prostitution trotz liberaler Sexualmoral, trotz Seitensprungagenturen, Telefon-und InternetSex nicht nur überleben, sondern sich an neue Situationen anpassen und behaupten konnte, und zum anderen, daß der weitaus größte Teil der Männer sie in jungen Jahren kennenlernt und fast alle Erstfreier irgendwann wiederkommen oder sogar zu Stammkunden werden. Kleiber und Veiten fanden heraus, daß deutsche Männer ihre ersten Prostitutionserfahrungen entweder als Teenager (43,1%) oder zwischen zwanzig und dreißig (48,7%) sammeln. Für keinen einzigen Befragten blieb es bei einem, also dem ersten Besuch. Fast zwei Drittel suchten bis zu 50mal eine Prostituierte auf, 13,9% bis zu 100mal und 24,7% über 100mal.39
Wenn Freier Täter wären, müßte man wohl von Wiederholungstätern sprechen. Selbst in den USA, wo Prostitutionskunden genau so,
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