Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
Richtung kommerzielle Sex-Offerten zu erweitern. Sie setzt fort, was die Empfängnisverhütung und die sexuelle Revolution auf den Weg gebracht haben: die Vision, daß Frauen sich auch in sexueller Hinsicht in der Gesellschaft freier bewegen können.
Klischee Nr. 40:
Die Prostitution hat keinen gesellschaftlichen Wert.
Wozu brauchen wir am Anfang des 21. Jahrhunderts eigentlich überhaupt noch sexuelle Tauschgeschäfte? Die sexuelle Revolution hat uns aufgeschlossener und promisker gemacht. Der Feminismus hat uns ein rigoroses Egalitätsbewußtsein eingeimpft. Das Denken in Markt-und Tauschwertkategorien ist uns zur zweiten Natur geworden. Welchen Zweck erfüllt eine Institution, die einst der Aufrechterhaltung der sexuellen Doppelmoral diente, in postfeministischen Zeiten? Führt sich die Prostitution in einer durchsexualisierten Marktgesellschaft nicht per Definition ad absurdum?
Es sieht nicht so aus. Die neuen Realitäten sprechen vielmehr dafür, daß die Sexarbeit, ähnlich wie die Psychotherapie, der Tourismus oder die Freizeitindustrie, die Widersprüche und Identitätsverluste unserer Gesellschaft auffängt und in Wohlbefinden und Ich-Stärke umwandelt. Diese Gesellschaft fordert nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer ein breitgefächertes Ich: eins für die Arbeit, ein anderes für den Partner, die Familie und die Freunde. Wenn das Leben beruflich und privat vor allem aus Sachzwängen, Pflichten und Konventionen besteht, bleibt oft nur noch die Libido, über die man frei verfügen, die man frei gestalten kann. Der Vorteil der Prostitution ist, daß sie nicht nur unverbindlichen Sex bietet, sondern gleichzeitig eine Art Korrektiv für die Last einseitiger oder widersprüchlicher Rollenfestlegungen.
In einer Welt, in der Männer sich beruflich anpassen, aber auch durchsetzen sollen, gleichberechtigte Partnerschaften führen, aber ab und zu den Spanier heraushängen lassen sollen, in der ein sicherheitsfixierter Staat keine Risikosituation ungeregelt läßt, aber ständig neue Extremsportarten auf den Markt drängen, ist die Prostitution oft das einzige Refugium, um sich von der Last widersprüchlicher Männlichkeitsgebote zu erholen. Dank einer ausdifferenzierten Dienstleistungspalette erfährt jedes Identitätsdefizit seine Kompensation. In den Kavernen der Lust können sich die Männer erholen - von den Agilitätszwängen des stets aktiven Machers, vom Frust ständiger Anpassung. Wenn es sich nicht gerade um abgetakelte Absteigen handelt, gleichen Bordelle dionysischen Chill-out-Zonen, Wellness-Oasen, in denen Bedürfnisse nach Ausgleich, Freiheit, Wahlmöglichkeiten bedient werden. In ihren Schutzräumen werden Anteile ungelebten Lebens ausagiert, was erklärt, warum nicht wenige Männer ihre Prostitutionserfahrungen als heilsam, ja geradezu therapeutisch betrachten. Sexarbeiterinnen sind praktisch Sozialarbeiterinnen: Sie regenerieren ihre Kunden, stärken deren Identität als sexuelle Wesen, steigern deren Vitalität und stabilisieren deren Ehen.
Die Prostitution lebt von der scheinbaren Paradoxie einer sexuahsierten Gesellschaft mit lustlosen Monogamisten. Sie fängt die Widersprüche der Monogamie auf, ohne sie in Frage zu stellen.
Prostitutionsbesuche entwerten nicht die partnerschaftliche Sexualität, sondern ergänzen sie - wie die Selbstbefriedigung, sexuelle Phantasien, Blickkontakte und Flirts mit Dritten.108 Schützte sie früher in gewisser Weise die Institution Ehe, so bewahrt sie heute ein hoffnungslos überfrachtetes Beziehungsideal vor seiner Selbstauflösung. Sie respektiert den Wert der partnerschaftlichen Liebe, die Bedürfnisse nach dauerhaften Lebenspartnerschaften und konzentriert sich diskret auf das Vermitteln intensiver Momente unverbindlicher Sexualität. Sie weiß, daß die Sexualität nur bedingt domestizierbar und rational steuerbar ist. In dieser Diskretion und dem realistischen Einschätzen eigener Grenzen bestehen ihre Stärke, ihr sozialer Wert und ihr Verdienst. Das Moment der Heimlichkeit ist dabei essentiell. Es bewirkt weit mehr als einen elektrisierenden Reiz bei der moralischen Grenzüberschreitung. Wer sich den Wahrnehmungen anderer ausgeliefert fühlt, die ihn für unerotisch, langweilig oder alt halten, kann über die Macht dieser Werturteile still triumphieren, erfährt eine kurzfristige Entlastung von der Bürde der Fremdwahrnehmung, die in ihm einzig den Familienmenschen, den unantastbaren Vorgesetzten, den ewigen Junggesellen oder den
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