Laß dich verwoehnen - Prostitution in Deutschland
dem Gewerbe eigentlich den Todesstoß versetzen müssen. Doch die Geschichte der Prostitution, die oben zitierten Zahlen und Fakten zeigen, daß dieses Metier gegenüber Einbrüchen und Krisen immer erstaunlich kreativ reagierte. Auf die größere Freizügigkeit und die neue Wettbewerbs-situation antworteten viele Frauen mit einer Ausdifferenzierung der Dienstleistungspalette in Richtung Massage und S/M: die sexuelle Dienstleistung als eine Art erotisches Erlebnis-Shopping. Die Globalisierung erschloß neue Märkte im In-und Ausland und ergänzte die Nachfrage um den Aspekt der Exotik. Das Aufkommen der McSex-Freier ist ein weiteres Beispiel dafür, daß die expandierende Sex-Industrie mit ihrer neuen Kultur der Selbstbefriedigung per Telefon und Internet zwar einerseits in Konkurrenz zur klassischen Prostitution trat, ihr andererseits aber auch wieder Neukunden zuführte, denen die Kommerzialisierung ihrer Bedürfnisse weniger moralische Bauchschmerzen verursacht als der Generation ihrer Väter.
Dessen ungeachtet erlebte die Branche in den letzten dreißig Jahren diverse konjunkturelle Auf und Ab. Nach der Strafrechtsreform von 1972 sah es zunächst so aus, als könnte die Prostitution von einer Liberalisierung der Sexualmoral in ungeahntem Ausmaß profitieren.
Goldgräberstimmung nach '72:
Philipp
Nach 1972 konnte jeder, der nicht völlig blöd war, in der Prostitution stinkreich werden, und zwar schnell. Innerhalb ganz kurzer Zeit hat die neue Situation die Männer wie ein Rausch überfallen. Vorher gab es all diese Angebote nicht, und die Männer ließen sich mit Praktiken wie »Falle schieben« leicht hinters Licht führen. Heute weiß ein 16jähriger über die Anatomie einer Frau besser Bescheid als sein Opa nach 50 Ehejahren. Doch damals waren die Männer ahnungslos, nervös, und als sich plötzlich all diese neuen Möglichkeiten ergaben, haben sie davon reichlich Gebrauch gemacht. Auch ich habe noch eine Zeit erlebt, da gaben die Männer 1000 Mark in einer Nacht aus oder auch mal 2000
und mehr. Für dasselbe Geld machen Sextouristen heute eine Woche Urlaub mit drei Frauen.
Die Zeiten, in denen sich das Geschäft mit der käuflichen Sexualität als Goldgrube erwies, gingen zumindest aus der Sicht damaliger Betreiber viel zu schnell vorbei. Schon die allgemeine Konjunkturent-wicklung nach der Ölkrise drosselte den Höhenflug der Sex-Profiteure, bis im Laufe der achtziger Jahre die AIDS-Angst für einen deutlichen Konjunktureinbruch im Prostitutionsgewerbe sorgte. Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Osteuropas und der Exodus osteuropäischer Frauen ließ die Preise noch tiefer in den Keller sacken. Verteilungskämpfe zwischen deutschen und ausländischen Akteuren in der Rotlichtprostitution machten vor allem in den neunziger Jahren Schlagzeilen. Zeitgleich mit seiner Auferstehung als Männlichkeitsikone in den Medien feierte ein neuer Typus von Siegelring-Zuhälter in den Rotlichtkiezen sein Comeback, vor allem im heißumkämpften ostdeutschen Markt. Mehrheitlich nicht-deutsche Player organisierten das Prostitutionsgeschäft nach frühkapitalistischer Manier und mit chauvinistischer Dominanz. Die Billigangebote, mit denen sie den Markt überschwemmten, appellierten an eine Kundschaft, der es an Kaufkraft, Großzügigkeit oder - zum Beispiel auf dem Land - an Alternativen mangelte.
2 FRAUEN ALS ÖKONOMISCHE LOSER
Klischee Nr. 45:
Die Prostitution ist ein Armutsphänomen.
Doch die Billigprostitution profitierte nicht allein von ihren Schnäppchenpreisen. In Gesprächen mit westlichen Freiern fanden Prostitutionsforscherinnen heraus, daß diese vor allem von der (scheinbaren) Warmherzigkeit und (scheinbar) echten Zuneigung ausländischer Sexarbeiterinnen angetan waren: Anstatt das Tauschgeschäft zeitlich und inhaltlich zu begrenzen, übernachteten sie mit den Kunden im selben Bett, rieben sie mit Sonnencreme ein, wuschen ihnen die Füße oder die Haare. Besonders in Osteuropa und Südostasien, wo mit der Armut in Form massenhafter informeller Prostitution auch die Hoffnung auf einen Ausweg um sich greift, verschwimmen die Grenzen zwischen Tauschgeschäft und echter Zuneigung leichter als anders wo. 130
Ein Blick zurück in den deutschen Nachkriegsalltag, und das Phänomen der mangelnden emotionalen Abgrenzung läßt sich auch aus mitteleuropäischer Perspektive unschwer nachvollziehen. Damals, als eine Packung Lucky Strike mehr wert war als jeder Geldschein,
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