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Lass Es Gut Sein

Titel: Lass Es Gut Sein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Schorlemmer
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Westdeutschen in 40 Jahren Wirtschaftswunder. Sie wollen nicht ewig dankbar sein, weil in der DDR dauernd Dankbarkeit als Unterwerfungsakt |88| und als Unterwürfigkeitsbezeigung gefordert, also Dankbarkeit ein Tarnwort für Gehorsam geworden war. Doch es ist ungerecht und undankbar, die immensen Hilfen nicht zu würdigen. Wie sähe es bei uns und mit uns aus, wenn wir »den Westen« nicht gehabt hätten – selbst wenn man vieles geschickt in den Westen zurückgelenkt hat, selbst wenn Ostdeutsche ihr Geld im Wesentlichen zum Konsumieren westlicher Produkte ausgaben. Welch ein Boom für die Autoindustrie seit 1990, für Küchenstudios, Molkereien oder Siemens!
    Doch die Ostdeutschen sollten bedenken: Aus eigener Kraft hätten wir in der DDR weder die Verkehrs- und Kommunikationsnetze in so großem Stile erneuern und die Städte restaurieren noch alle Industriebetriebe so modernisieren können, dass sie auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig gewesen wären. Oder man hätte nachträglich die Teilung zementiert und den Ostdeutschen beim Wechsel in den Westen Einwanderungsbedingungen diktiert. Einem eigenen, politisch und ökonomisch tragfähigen Weg zu einer demokratisierten DDR (ein Wachtraum vom 4. November 1989) fehlte die Basis. Dieser Staat hatte in jeder Hinsicht abgewirtschaftet. Die nach dem Sturz von Honecker und Stoph gebildete Regierung mit Hans Modrow als Ministerpräsident hatte sich auf eine Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik und der DDR hin orientiert und vor den Risiken einer übereilten Währungsunion gewarnt. Aber der mächtige Kohl ließ keine Zweifel daran aufkommen, wer der »Sieger« war und wer als Partner nicht mehr infrage kam. Wer zahlt, bestimmt auch.
    Durch das Aufdrücken westdeutscher Strukturen kamen neue Dominanzgefühle auf. Nicht nur »Gefühle«, wenn man an die Chefposten in vielen Institutionen oder Firmen bzw. an Professorenstühle denkt. Im Vereinigungsprozess kamen Helfer »mit Buschzulage«, um den »Aufbau Ost« zu managen. Viele von ihnen waren eher drittklassige Leute, die sich auf erstklassigen Positionen festsetzten und zunächst nur
einen
Vorteil vorzuweisen hatten: Sie wussten ungefähr, wie die Bundesrepublik funktioniert (auch, wie man sie abmelkt). Sie brauchten keine Biographien zu präsentieren; sie waren im richtigen System groß geworden |89| und dachten, sie hätten deshalb das richtige Leben geführt und könnten nun den »Ossis« zeigen, wie alles ganz richtig ist und richtig läuft. Das hat das oft kränkende, ja beleidigende Bild vom westdeutsch Sozialisierten als »Besserwessi« mitgeprägt. Manche von ihnen haben mit Grausen den Osten verlassen, an dem sie sich die Zähne ausbissen, andere sind – beglückt über das, was sie bewirken konnten – zurückgegangen. Dritte sind im Osten zu Hause, ohne dass sie sich »im Osten« fühlen, werden aber nun »im Westen« so eingestuft.
    Asymmetrien aus der Vergangenheit wirken fort und neue Ungleichgewichte bilden sich. Auch wenn heute das ganze Deutschland Wirtschafts- und Strukturkrisen zu bewältigen hat, so ist ein Gefälle zwischen der ehemaligen Sowjetzone bzw. DDR und der alten BRD geblieben. Ich hatte bereits beim Kirchentag in Westberlin, zu dem ich Anfang Juni 1989 erstmals fahren durfte, auf »die schwärende Wunde« aufmerksam gemacht. Wegen des Ausbleibens des Staatssekretärs für Kirchenfragen Klaus Gysi wurde ich als Gesprächspartner der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth eingesetzt – gegen jede diplomatische Gepflogenheit. Auf diesem Forum ging es um »deutsche Grenzen«. Damals sagte ich: »Das Wohlstandsgefälle zwischen der Bundesrepublik und der DDR hat zu einem Gefälle im Selbstwertgefühl geführt. In der Optik vieler Menschen bei uns und in der Bundesrepublik tritt dabei allzu leicht zurück, was die DDR in diesen 40 Jahren für Menschen unter erschwerten Bedingungen auch geleistet hat. Wer aber erlebt, wie weit wir technisch, ökonomisch, ökologisch zurück sind, wer erlebt, wie er als DDR-Deutscher in Osteuropa zu spüren bekommt, welche Deutschen gefragt sind, wie unser Land immer noch in vielen Bereichen zum Hinter- und Abfallland der Bundesrepublik wird, wer erlebt, wie die Bundesdeutschen die Semper-Oper besetzen, und nicht nur sie, wer erlebt, wie viele Menschen dieses Land verlassen haben und noch verlassen, dem geht das an sein Selbstwertgefühl. Zunächst ist dies nur für Betroffene deprimierend. Ich denke aber, es ist längerfristig gefährlich, wenn

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