Lass Es Gut Sein
Kollektivgesellschaft seine Identität zu bewahren. Wie wunderbar, ein begehrtes Buch zu ergattern oder eine Tüte Apfelsinen zur Weihnachtszeit. Und dass »nicht alles schlecht« war, wirklich nicht, weil es hier geistreiche, humorvolle, ehrliche, verlässliche, begabte Menschen gab, die neben dem offiziellen ein gelingendes privates Leben organisierten und aufrecht in der »Bück«-Gesellschaft gingen. Nicht überall hinreisen zu dürfen, öffnete die Augen für das Schöne, das vor der Tür lag. Sich-wehren-Müssen, das machte auch stark.
|245| Wir sahen eine Utopie wie einen bunten Luftballon platzen. Wir erlebten (dumme) Funktionäre und viele brav-geduckte »Staatsbürger der DDR«, die funktionierten. Parteilügen schienen zu triumphieren. Befreiend wirkten Gedichte von Reiner Kunze, Volker Braun oder Wolf Biermann. Eine plötzlich aufblitzende Idee, nach so vielen Rückschlägen (1953, 1956, 1968) kam durch die Verbindung von Gerechtigkeit und Freiheit, Demokratie und Sozialismus durch Michail Gorbatschow aus Moskau seit 1985.
Und dann erlebten wir den mutigen Aufbruch eines entmündigten Volkes, das kluge, besonnene, entschlossene Abschütteln einer Weltbeglücksideologie. Eine Feier-Abend-Revolution und jene berauschende Nacht im November, als die Leute plötzlich die Mauer stürmten und Ost- und Westdeutsche sich in den Armen lagen. Viele friedliche Demonstrationen für die Freiheit im Schatten der Angst in Deutschland, in osteuropäischen Staaten – das hatte keiner erwartet.
Wir haben die Grenzen des Kalten Krieges gesprengt. Ihr werdet mit den Grenzen zwischen der EU und afrikanischen Staaten sowie den Barrieren zwischen Arm und Reich fertigwerden
müssen
. Ihr habt den Alltag in einer unübersichtlich gewordenen, multipolaren und multikulturellen Welt zu bestehen. Euer fehlender Arbeitsplatz hat auch mit der Börse in Hongkong und mit Konzernen in Seoul zu tun.
Auch heute haben freilich Leute, die hochkommen wollen, »Rückenprobleme«, auch heute gibt es Mutige und Feige, Bornierte und Kreative. Obwohl es jetzt bei uns alles im Überfluss gibt, leiden Menschen unter Mangel. Immer mehr Leute kommen zu den Suppenküchen und holen sich das Notwendigste von den Tafeln für die Armen. Nicht alle Eltern können mit ihren Kindern verreisen.
Unser einfaches Leben war auch ein reiches Leben. Überfluss macht keineswegs automatisch glücklich.
|246| III.
Auch wenn die Welt sich globalisiert, wie es heute jeden Tag in der Zeitung steht, werdet ihr in einem abendländisch-christlichen Lebensraum groß werden. Unsere Kultur wird sich ihr Profil nur dann erhalten, wenn sie andere Kulturen gelten lässt, aber das Eigene nicht vernachlässigt. Das wird eure Aufgabe sein, denn wo alles gleich wird, wird alles gleichgültig. Zu viele Menschen wissen von unseren Wurzeln nichts mehr und sind so abgestumpft, dass sie davon auch nichts mehr wissen wollen, geschweige denn verstehen. Die Menschheit häuft immer mehr Wissen an, paradoxerweise führt das zu immer größerer Verdummung und innerer Entwurzelung. Wir meinen, viel zu wissen, aber können oft Wichtiges von Unwichtigem nicht unterscheiden. Unsere Seele bewältigt die Fülle nicht mehr, die auf Tiefe verzichtet.
Ich bin überzeugt, dass es
gut
für jeden Menschen ist, wenn er weiß und spürt, wo er wurzelt, wo also seine Lebensgrundlagen sind und wo er sich festhalten kann, was trägt, was über den Tag hinaus gilt und jedem Leben Sinn gibt.
Ich sehe unsere westliche Welt auf eine kulturelle, moralische und seelische Dürrekatastrophe zusteuern. Es gehört zwar zur Freiheit, jeden Schrott herzustellen. Es gehört zur Freiheit, jeden Schrott zu sehen, zu kaufen und zu konsumieren. Es gehört aber auch zur Freiheit, darauf zu verzichten. Das erfordert täglich bewusste Entscheidungen und wertebestimmte Koordinaten. Jeder kann und muss selbst erkennen, auf welche Weise man lediglich zum Konsumenten degradiert wird oder wie man durch mediale Beeinflussung regelrecht verblödet. Das wichtigste Kriterium könnte sein, sich immer zu fragen, wie einem sein Subjektsein erhalten bleibt bzw. wodurch es gestärkt wird und wodurch man sich zum Objekt machen lässt.
Die vergangene sozialistische Welt machte den Einzelnen zum Rädchen, die heutige kapitalistisch-marktwirtschaftliche zum Konsumenten. Es wird darauf ankommen, wie viel dem |247| Einzelnen seine Freiheit wert ist, wie viel er für diesen »ideellen Wert« einzusetzen bereit ist, selbst wenn er sich
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