Lass Es Gut Sein
Bezeichnend für den Stand der inneren Einheit ist, dass sich nach über 15 Jahren im vereinigten Deutschland manche Leute die Mauer wieder zurückwünschten: »21 Prozent der Deutschen finden, es wäre besser, wenn die Mauer zwischen Ost und West noch stehen würde. Vor sechs Jahren meinten das nur 18 Prozent. Im Westen wünschen sich sogar 25 Prozent die innerdeutsche |86| Grenze zurück, in Bayern ist es schon jeder Dritte (33 Prozent)!«
( Berliner Kurier
, 18. Oktober 2005)
All denen wünsche ich, die Mauer ein Jahr von der Seite erblicken zu müssen, die nicht bunt war. Edmund Stoiber merkte vor seiner Klientel im Wahlkampf 2005 an, dass »nicht überall so kluge Bevölkerungsteile leben wie in Bayern«, und forderte, die Ostdeutschen als »Frustrierte« dürften die Bundestagswahl nicht wieder entscheiden. Wohlkalkuliert versuchte er innerdeutsche Anti-Stimmungen für sich zu nutzen. Dramatisch war gar nicht, dass ein einzelner Bayer entgleiste, sondern dass eine tiefgehende Differenz zwischen Ost und West, Abwertung und Überdruss, die es im Westen gibt (auch wenn sie nicht repräsentativ sein mögen), instrumentalisiert wurden. Die beinahe gänzlich von Westlern bestimmten Medien kritisieren weniger solche Äußerungen als die angeblich übertriebene Empfindlichkeit, mit der Ostdeutsche darauf reagieren. Der Ost-Ekel kommt immer wieder in regelmäßigen Abständen vom Westen her hoch – mit medialen Lautverstärkern
( SPIEGEL
und Springer in Eintracht!), die den Ostlern nicht zu Verfügung stehen. Beinahe jede
SPIEGEL
-Geschichte über den Osten ist eine Demütigung mit
SPIEGEL
-spezifischer Häme und Unterstellung. Der Subtext ist noch schlimmer als der Text: Verachtung.
Oder im Fernsehen: Welch einen Frust gegen Ossis hatte Wolfgang Menge 1993 in seiner Fernsehserie »Motzki« zum verächtlichen Ablachen abgeladen. Allerdings lassen auch die zahlreichen »Wessi-Witze« nichts an Gemeinheit zu wünschen übrig. Solche Witze sind die Waffen von Unterlegenen.
Nach dem ökonomischen und politischen Zusammenbruch und einem gewaltlosen demokratischen Aufbruch fand sich die große Mehrheit der DDR-Deutschen nämlich alsbald nicht auf der Gewinnerseite, sondern musste auf der Verliererbank Platz nehmen. Der Westen übernahm – zu oft besserwisserisch – und er übernahm sich. Als Verursacher, wenn nicht gar als Schuldige der gesamtdeutschen wirtschaftlichen Misere nach dem Einheitsboom wurden hauptsächlich die Ostdeutschen ausgemacht. Im Westen dominiert in den Köpfen und in den Medien nach wie |87| vor das Bild vom jammernden, handaufhaltenden Ossi; es sei denn, sie kommen als junge, gut ausgebildete, hochmotivierte Arbeitskräfte in den Westen – sofern sie keine Führungsansprüche erheben!
Von Westdeutschen hört man: Sind die im Osten noch immer nicht geheilt und trauern ihrer DDR nach? Die wählen sogar diese »alten Genossen«, während wir das alles bezahlen sollen! Einige neurotische Abwehrreaktionen funktionieren als Langzeitüberbleibsel aus dem Kalten Krieg bis heute; manches mutet geradezu gespenstisch an: Es gibt einen PDS-Reflex, als ob die Linkspartei/PDS nur eine umbenannte SED wäre und als ob auf diese Linkspartei/PDS der auf die Sowjetkommunisten gemünzte Satz Kurt Schumachers von den »rotlackierten Faschisten« zutreffen würde. Für die stalinistische KPD/SED traf das freilich zu!
Im Osten hingegen gibt es immer wieder »antikapitalistische Reflexe«, sobald über Gewinn und Verlust gesprochen wird. Da höre ich oft: »Mensch, der Kapitalismus ist ja wirklich so, wie wir es in der Rotlichtbestrahlung in GEWI gehört haben; er geht über den arbeitenden Menschen gnadenlos hinweg. Er macht alles zur Ware, auch den Menschen. Das Kapital regiert und die neuen Kapitalisten. Die bürgerliche Freiheit ist doch nur eine Schaukel. Hatte Marx nicht doch Recht, Herr Pfarrer?«
Im Westen wird oft gefragt, warum die Ostdeutschen so undankbar sind und nicht sehen wollen, wie viele Millionen inzwischen in den Osten geflossen sind und weiter fließen, Geld, das schließlich erarbeitet werden muss. In dieses »Fass ohne Boden« wollen viele Bundesländer ohnehin nicht mehr einzahlen. Die Erfahrung zeigt, dass es kontraproduktiv ist, wenn man mit Dankbarkeit politische Botmäßigkeit verbinden will. Das bewirkt das Gegenteil.
Ostdeutsche verstehen die Hilfe als eine Art Genugtuung für das, was sie erlitten haben, als Entschädigung dafür, dass sie nicht so haben »schaffen können« wie die
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