Lass Es Gut Sein
»Gemeinsame Sicherheit« schließlich von der größten unmittelbar aneinander angrenzenden Militärkonzentration der Welt mit mehrfacher gegenseitiger Vernichtungskapazität und kürzesteten Vorwarnzeiten (SS 20 und Pershing II) befreit hat. Es ging nicht bloß um die Mauer, es ging auch um Waffen und Ideologien.
Nach 1991 sind binnen kürzester Zeit 450 000 Sowjetsoldaten aus Deutschland abgezogen. Freilich: Sie haben riesige belastete Territorien hinterlassen, aber das bedrohliche Vernichtungspotenzial ist verschwunden. Daran sollten wir zuallererst denken, wenn wir über heutige Probleme in Deutschland klagen. Wir Deutschen hatten nach 40 Jahren Teilungsstrafe, nach schmerzhafter Trennung und Auseinanderentwicklung ein unerwartetes Glück, ein unverdientes Glück, ein großes Glück,
|84| dass uns die Russen trotz des Schocks vom 22. Juni 1941 in die Freiheit und in die Einheit mit Integration in die westliche Wertegemeinschaft entließen, womit sie faktisch ihr Imperium aufgaben. Wir hatten Glück,
dass die anderen Europäer keine Angst mehr vor einem wieder erstarkten Deutschland hatten,
dass die Amerikaner ganz entschieden zur Sache der deutschen Einheit standen,
dass Helmut Kohl die Westdeutschen 1990 nicht ausdrücklich fragte, ob sie die Einheit wollten, und nicht öffentlich darüber Auskunft gab, mit welchen Kosten dies realistischerweise verbunden sein könnte. Oder hatte er es gar nicht gewusst und wissen wollen?
Wir sind heute von Völkern umgeben, mit denen wir freundschaftlich oder wenigstens partnerschaftlich verbunden sind. Wann hat es das in der deutschen Geschichte gegeben?
Wer sich an das erinnert, was hinter uns liegt, dem muss nicht bange werden vor dem, was vor uns liegt. Aber er sollte vor heutigen und künftigen Herausforderungen nicht die Augen verschließen und Mut schöpfen aus der Erinnerung an Geglücktes. Wir in Deutschland leben auf einer Insel des Glücks, mit allem, trotz allem. Vergessen wir das nicht. All unsere Probleme sind, gemessen an den Problemen anderer Länder, erst recht anderer Erdteile, klein. Allerdings stehen wir vor großen Aufgaben, die wir gemeinsam lösen müssen, um z. B. trotz internationaler Kapitalverflechtung noch etwas von demokratischer Mitgestaltung und vom Sozialstaat zu retten. Ob die
innere
Einheit – neben der äußeren, politischen, rechtlichen und juristischen – gelingt, hängt davon ab, ob wir es in ganz Deutschland mit aller Kraft und mit allen gesellschaftlichen Kräften schaffen, die Einheit der beiden tragenden Werte »Gerechtigkeit und Freiheit« zu wahren. Es ist nicht hinzunehmen, dass sich die Spaltung zwischen Oben und Unten, zwischen Armen und Reichen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Ost und West vertieft. Aber die Gräben, die durch unsere Gesellschaft laufen, berechtigen uns nicht dazu, immer nur von großen Schwierigkeiten zu sprechen. Unsere |85| Probleme sollten wir als Glück sehen, in dem große Herausforderungen stecken. Sie lassen sich meistern, wenn wir wissen, wo unser Ziel ist: kurzfristig, mittelfristig, langfristig. Es steht besser als gedacht; es steht aber auch schlechter als erhofft.
Wie Gräben ausgehoben wurden
In der deutsch-deutschen Annäherung gab es einen kurzen Moment ungeteilter Freude: als »Landsleute« aus Ost und West sich geradezu in den Armen lagen – in den Tagen und Nächten nach dem 9. November 1989. Walter Momper brachte die damalige gesamtdeutsche Stimmungslage auf den Punkt: »Die Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt.« Nach Rausch und Freudentaumel kam langanhaltender Kater. Das, was man Delegitimierung der DDR nennt, hat tiefgehende und langwirkende Folgen.
Wir Eingemauerten hatten geglaubt, die Menschen aus dem freien Westen seien etwa so wie jene, die uns tapfer und treu besucht hatten. Und die Westler hatten ein Bild von den Ostdeutschen, das bestimmte Journalisten durchaus wohlwollend, die Feindbilder hinterfragend, gemalt hatten. Nun mussten sie alle, auch die anderen, sehr unangenehmen Ostdeutschen, diese Kaderkorporationen, mit übernehmen und sogar noch mit bezahlen. »Hohe Renten für hohe Funktionäre …« – da ließ sich manches trefflich aufmischen. Bald bäumte sich Ost-Trotz gegen West-Protz auf. Man urteilte übereinander, ehe man sich kannte, übertrug schlechte einzelne Erfahrungen – auf beiden Seiten – auf alle. Es gab und gibt im Osten eine Abschottungsmentalität gegen Westdeutsche – als ob alle Westdeutschen »Wessis« wären.
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