Lass los was dich festhaelt
Leute, denen es nicht darum geht, im besten Sinn weiterzukommen, sondern die nur auffallen wollen.
Schlampige Kleider, ungewaschene Haare, unkontrollierter Bartwuchs, offen zur Schau gestellte Missachtung des Geldes, Herumlungern in der Öffentlichkeit und was der menschlichen Überheblichkeit sonst noch einfallen könnte, das meide!
Das Wort »spirituell« wird generell nicht gern gehört, auch wenn man sich noch so zurückhaltend zeigt. Wie wäre es erst, wenn wir anfangen würden, uns dem allgemein üblichen Lebensstil entgegenzusetzen? Im Inneren, da muss alles ganz anders sein, aber unser Aussehen muss sich dem Üblichen anpassen. Unsere Kleidung sollte nicht übertrieben modisch wirken, aber auch nicht schlampig. Wir haben es nicht nötig, uns mit Silber und Gold zu umgeben, sollten diesen Verzicht aber auch nicht demonstrativ als Zeichen unserer Bescheidenheit einsetzen. Unser Vorsatz sollte sein, durchweg auf eine bessere Lebensführung zu achten als die Allgemeinheit, aber nicht so auffallend anders, dass wir diejenigen abstoßen und von uns wegtreiben, die wir bessern möchten, und diese dann gar nichts mehr von uns übernehmen wollen, weil sie fürchten, überfordert zu werden. Spirituelles Bewusstsein fordert vor allem eine normale Lebensweise und einen freundlichen Umgang mit den Menschen, und würden wir uns dauernd anders benehmen,
dann könnte unser vorbildliches »Anderssein« bald belächelt, wenn nicht sogar verhasst werden. Unsere Grundlage ist ein der Natürlichkeit entsprechendes Leben, nicht aber, den eigenen Körper zu misshandeln, die Regeln einfachster Sauberkeit nicht einzuhalten, das Schmutzige zu suchen, nicht nur minderwertige, sondern sogar ekelhafte, künstliche Nahrung zu sich zu nehmen, denn das ist naturwidrig. Genau so wie es Verschwendung ist, Delikatessen für sich zu beanspruchen, ist es verrückt, die üblichen gesunden und preiswerten Nahrungsmittel zu verschmähen. Zurückhaltung ist es, welche die Spiritualität verlangt, und nicht Selbstquälerei! Zurückhaltung und adrettes Auftreten vertragen sich aber absolut. Das, was mir gefällt, ist das richtige Mittelmaß, der goldene Mittelweg, den wir zwischen einer strengen Ordnung und dem allgemeinen Verhalten gehen müssen. Alle sollen unsere Art zu leben genau anschauen dürfen, aber sie sollte möglichst keinen Widerwillen auszulösen.
Tun wir dann aber eigentlich nicht dasselbe wie alle anderen? Gibt es denn dann noch einen Unterschied zwischen uns und den anderen? Doch, einen sehr großen! Jeder, der sich näher mit uns beschäftigt, soll finden, dass wir ganz anders sind als das Übliche. Wer uns besucht, der soll nicht so sehr unsere Einrichtung bewundern, als vielmehr uns selbst. Wer mit Tongeschirr so umgeht, als sei es aus Silber, der hat es wirklich geschafft!
Dieser Brief wurde vor fast zweitausend Jahren von dem großen Philosophen Seneca verfasst, und ich muss zugeben, dass ich die ursprünglichen Begriffe »Philosophie« und »philosophisch« durch »spirituelles Bewusstsein« und »spirituell« ersetzt
habe, um den aktuellen Bezug deutlicher zu machen. Ich hoffe, der große Seneca verzeiht es mir mit der für ihn typischen stoischen Gelassenheit. Allerdings kann ich es mir nicht verkneifen, Ihnen mitzuteilen, dass Seneca es mit dem Verzicht auf das Demonstrieren materiellen Wohlstandes in Form von Gold und Silber, den er Lucilius hier empfiehl, selber nicht gerade übertrieben hat. Immerhin war er einer der reichsten Männer seiner Zeit, ein römischer Rockefeller sozusagen. Aber das braucht uns nicht zu stören. Die Frage ist nämlich nicht, wie viel jemand besitzt, sondern wie sehr er an diesem Besitz hängt.
Der Brief zeigt, dass unsere Themen nicht neu sind und dass es auch vor langer Zeit schon Probleme gab, wenn sich jemand in eine andere Richtung entwickelte als die Allgemeinheit. Seneca rät, sich unverstellt und eindeutig zu zeigen, völlig selbstverständlich und unaufdringlich: »Jeder, der sich näher mit uns beschäftigt, soll finden, dass wir ganz anders sind als das Übliche.« Das Selbstverständliche muss das Überzeugende sein, findet Seneca, und der Schutz, von dem meine beiden Physiker sprachen, entsteht bei ihm durch Unauffälligkeit sowie durch klares und bewusstes Abgrenzen von allem, was man als geistigen Hochmut bezeichnen könnte. Doch, um der Wahrheit wieder einmal die Ehre zu geben, sei auch gesagt: Der geistige Hochmut hat seine Heimat überall auf diesem Planeten und blüht vor
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