Lass mich in Dein Herz
zu erwartenden Belästigungen zu Hause entzogen, saß hier aber wie auf dem Präsentierteller. Verdammt!
Was sollte sie tun? Sich im Büro einschließen und den Wachmann anrufen? Was, wenn Valentin schneller war als der und einfach die Tür eintrat?
Sie rannte zum Fahrstuhl, drückte auf den Knopf. »Los, komm schon!« Nichts tat sich.
Sie lauschte den Schritten. Die kamen näher. Sie hastete zu den Treppen, lief gehetzt hinunter, immer darauf bedacht, die Stufen in dem diffusen Halblicht der Nachtbeleuchtung nicht zu verfehlen. Sie erreichte die Eingangshalle. Die Loge des Wachmannes! Leer und abgeschlossen. Er machte wahrscheinlich gerade einen Rundgang. Tolles Timing! Abgeschlossen auch die Außentür des Gebäudes. Sie konnte also nicht zu ihrem Wagen. Das Handy lag oben im Büro. Wirklich toll!
Sie überlegte fieberhaft. Die Toiletten!, fiel ihr ein. Dort gab es ein Fenster, durch das sie hinauskonnte! Dazu musste sie aber an der Treppe vorbei, von wo die Schritte näherkamen. Langsam, ohne Eile. Jetzt bog ein Schatten um die Ecke, stand auf der obersten Stufe des letzten Treppenabsatzes. Der Schatten pfiff leise.
Für eine Sekunde blieb Andrea wie erstarrt stehen. Dann rannte sie los.
Valentin brauchte nur zwei Sprünge für die zwölf Stufen. Wie eine Mauer stand er vor Andrea, sah auf sie hinab und grinste. »Wohin so eilig, Frau Richterin?« Er roch nach Schweiß, und sein Atem wehte Andrea unangenehm ins Gesicht.
Angewidert wich sie ein paar Schritte zurück. »Ich rate Ihnen, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. Jeden Augenblick kann der Wachmann zurückkehren.« Sie versuchte ihre Stimme fest und unbeeindruckt klingen zu lassen.
»Du meinst diesen halben Meter in Uniform? Keine Sorge. Den habe ich schlafen geschickt. Der stört uns nicht.«
In Andrea kroch nun endgültig Panik hoch. »Was wollen Sie?«
»Gerechtigkeit.« Valentins Gesicht versteinerte zu einer rachsüchtigen Grimasse. »Wo hast du deine Schlüssel?« fuhr er fort.
»Was geht Sie das an?« Andrea versuchte die Panik zu unterdrücken.
Valentin griff brutal in ihr Haar und zog ihren Kopf nach hinten. »Wo sind die Schlüssel?« wiederholte er drohend.
»Oben. Im Büro«, antwortete Andrea mit schmerzverzogenem Gesicht.
»Gehen wir.« Er wies die Treppe hinauf. »Und keine Dummheiten. Wenn du versuchst wegzurennen, werde ich unangenehm.«
Während Andrea neben ihm die Treppe hinaufstieg, überschlugen sich ihre zitternden Gedanken. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?
Viel zu schnell erreichten sie ihr Büro.
Mit einem brutalen Stoß stieß Valentin sie hinein. »Los! Der Schlüssel für den Verhandlungssaal!« herrschte er sie an.
Andrea gab ihn ihm. Was wollte er damit?
»Geh vor.« Valentin zeigte in den Gang.
Sie tat es. Dabei suchte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, Valentin zu überrumpeln oder wenigstens, ihm zu entkommen. Streng dich an! Es gibt immer eine Möglichkeit! Aber sie fand keine.
Sie kamen an dem Verhandlungssaal an, in dem Valentin damals von ihr verurteilt worden war. Er schloss auf.
»Setz dich!« wies er sie an und zeigte auf den Stuhl der Anklagebank. Er zog einen Strick aus seiner Hosentasche und fesselte ihre Beine an den Stuhl, bevor sie reagieren konnte. Dann begab er sich zum Richterplatz und setzte sich ebenfalls.
Plötzlich wurde Andrea klar, was er vorhatte. Er wollte eine Gerichtsverhandlung abhalten. Sie war die Angeklagte. Er der Richter und das Gesetz. Er drehte den Spieß um. Als Genugtuung.
»Stellvertretend für den Staatsanwalt verlese ich jetzt die Anklage«, begann Valentin das Schauspiel. »Die Angeklagte Andrea Jordan wird beschuldigt, ihr richterliches Amt missbraucht und wider besseres Wissen geurteilt zu haben. Am 10. September 2001 verurteilte sie Thomas Valentin zu einer Gefängnisstrafe von achtzehn Monaten. Thomas Valentin, der nie etwas anderes wollte, als bei seiner Freundin zu sein, sie zu beschützen. Er wurde das Opfer der Engstirnigkeit und Ignoranz von Andrea Jordan, der Richterin in seinem Fall. Sie trennte ihn von allem, was er liebte, und zerstörte damit sein Leben. Möchte die Angeklagte dazu Stellung nehmen?«
Andrea wusste nur eines. Sie durfte auf dieses Spiel nicht eingehen, keine einzige seiner Fragen beantworten. Jede Reaktion von ihrer Seite würde Valentin bestärken, seine Aggressivität mit Sicherheit steigern. Wobei abzuwarten galt, was ihr Schweigen auslöste. Es konnte genau dieselbe Wirkung haben.
»Sie verzichten?«
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