Lass nur dein Herz entscheiden
Radio einschaltete, dudelte irgendein Weihnachts-Popsong.
Sogar Clara wurde vom Festvirus angesteckt. Oder es war die Beziehung zu Brian, die Clara veranlasste, Weihnachtslieder zu summen und einen Tannenbaum für die Eingangshalle des Hauses zu kaufen. Miriam half ihrer Freundin, ihn mit Lametta und Christbaumkugeln zu schmücken. Zum ersten Mal seit Tagen lachte sie unbeschwert, als Clara eine gruselig aussehende Vogelscheuche mit Weihnachtsmannmütze auf die Baumspitze setzte.
„Zu traditionell darf es nicht sein.“ Clara lächelte verschmitzt. „Ich muss an meinen Ruf denken. Cool, was?“
„Echt cool“, stimmte Miriam zu. „Ich verstehe nur nicht, warum du dir die ganze Mühe gemacht hast. Wir sind doch über Weihnachten gar nicht da.“ Sie würden am vierundzwanzigsten morgens früh abreisen und für neun Tage weg sein.
„Die anderen Bewohner werden sich darüber freuen. Schließlich ist es doch die Zeit der Nächstenliebe.“
„Richtig.“ Lächelnd betrachtete Miriam den geschmückten Baum mit seiner albernen Spitze. Aber das Herz tat ihr weh. Diese nagende Sehnsucht nach Jay wurde immer schlimmer. Deprimiert fragte sich Miriam, wie er sie einfach aus seinem Leben streichen konnte, wenn er sie doch liebte.
Du bist unvernünftig, schalt sie sich. Sie war es, die ihn weggeschickt und darauf beharrt hatte, es gebe keine Hoffnung mehr für sie beide. Also warum sollte er sich darum bemühen, sie wiederzusehen? Sie verlangte zu viel. Wahrscheinlich hatte sie immer zu viel verlangt. Die Frauen warfen sich ihm zu Füßen. Jay musste sich nicht mit einer Partnerin abfinden, die alle möglichen psychischen Probleme mit sich herumschleppte.
Nein, sie durfte ihm wirklich keine Vorwürfe machen, dass es ihm jetzt reichte.
Aber sie tat es.
Sie könnte ihn jederzeit anrufen. Der Gedanke daran, Jay die Wahrheit zu sagen, erschien ihr jedoch fern. Und das, obwohl sie inzwischen wusste, dass sie all die Jahre eine völlig falsche Vorstellung von den Gefühlen ihrer Mutter gehabt hatte. Unglücklich gestand sich Miriam ein, dass sie noch immer einige böse Geister loswerden musste.
Am Tag vor Heiligabend fing es an zu schneien, gerade genug, um die kahlen Bäume und die Dächer mit Zuckerguss zu überziehen. Am Nachmittag fand im Büro die Weihnachtsfeier statt, danach schloss die Anwaltsfirma bis zum zweiten Januar.
Miriam trank zwei Gläser Wein, aß ein wenig von dem Knab-berzeug, plauderte, lachte und täuschte Begeisterung über den bevorstehenden Urlaub vor. Auch Clara gegenüber hatte sich Miriam in den vergangenen zwei Wochen nicht anmerken lassen, was sie wirklich empfand, um ihrer Freundin nicht die Vorfreude zu verderben.
Als Miriam das Bürogebäude verließ, lag Frost in der Luft. Die Bürgersteige wimmelten von Menschen, die Tüten und Pakete trugen. Dem rücksichtslosen Gedrängel nach zu urteilen, war jeder mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt und total im Stress statt in Weihnachtsstimmung.
Ich habe das Großstadtleben satt, dachte Miriam plötzlich. Sie wohnte und arbeitete seit Jahren in der Metropole, und zuerst war es toll gewesen, interessant und aufregend, auch wenn ihr Job eher Routine war. Aber hatte sie wirklich Lust, für den Rest ihres Lebens in einer Betonwüste zu wohnen und sich jeden Morgen und jeden Abend durch einen Strom von Menschen zu kämpfen?
Eine genervte Mutter mit einem weinenden Kleinkind im Buggy ging an Miriam vorbei. Die Einkaufstasche der Frau traf Miriam mit solcher Wucht, dass sie stolperte. Die Frau drängte sich weiter durch die Menschenmassen, indem sie den Buggy als Waffe benutzte, um den Weg frei zu machen.
Dies war Jays Welt. Hier, direkt im Herzen der pulsierenden Großstadt, wollte er arbeiten und wohnen. Und an seiner Wahl gab es nichts auszusetzen. Es war nur nicht mehr das, was Miriam wollte. Der Gedanke war unglaublich beunruhigend. Miriam wurde sich jedoch bewusst, dass sie im Grunde schon lange so dachte. Wahrscheinlich, seit Jay und sie sich getrennt hatten.
Aus Liebe zu ihm hatte sich Miriam seinem hektischen Leben angepasst. Und um fair zu sein, manchmal hatte sie Spaß daran gehabt. Jetzt brauchte sie etwas anderes. Wiesen, Bäume, Felder. Ein kleiner Wochenmarkt vielleicht. Irgendwo, wo sie einen guten Job bekommen konnte und morgens statt vom Dröhnen des Großstadtverkehrs vom Vogelgezwitscher wach wurde. Wo sie frische Luft statt Autoabgase einatmete.
Und was wurde dann aus Jay und ihr? Bedrückt ging Miriam die Stufen
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