Lass nur dein Herz entscheiden
genossen, wenn er schlief und sie ihn nach Herzenslust betrachten konnte. Dann hatte er so jungenhaft ausgesehen. Aber dennoch sehr männlich.
Durch widersprüchliche Gefühle innerlich zerrissen, schluchzte Miriam auf. In ihrem Kopf herrschte Chaos, und sie hatte keine Ahnung, wie sie in das wüste Durcheinander Ordnung bringen sollte.
Allmählich wirkte die friedliche Szenerie draußen beruhigend auf Miriams überreizte Nerven. Sie musste eine Zeit lang geschlafen haben, denn plötzlich war es sechs Uhr.
Etwas, was Clara gesagt hatte, war offenbar erst im Schlaf in ihr Unterbewusstsein gedrungen, denn Miriam wusste jetzt genau, was sie tun würde. Sie musste ihre Mutter besuchen und sie nach ihrem Vater fragen, am besten, während George bei der Arbeit war. Miriam schlug die Steppdecke zurück, kochte sich eine Kanne Tee und kehrte an den Bistrotisch zurück. Während sie drei Tassen trank, beobachtete sie, wie die ersten Lichtstrahlen des anbrechenden Tages den Himmel rosagrau färbten.
Sobald sie angezogen war und das Zimmer aufgeräumt hatte, rief Miriam ihre Mutter an.
„Hallo, Liebling. Gerade gestern Abend habe ich zu George gesagt, ich hätte schon ein oder zwei Tage lang nichts von dir gehört.“
Es waren mehr als ein oder zwei Tage. Miriam nahm den sanften Tadel kommentarlos hin. „Ich dachte, ich komme dich heute Morgen besuchen, wenn du nichts vorhast? Wir könnten irgendwo zu Mittag essen.“
„Arbeitest du heute nicht?“
„Nein.“
„Bist du krank?“
„Mir geht es nicht besonders gut.“ Tatsächlich hatte sich Miriam noch nie in ihrem Leben so mutlos und unglücklich gefühlt.
„Ich komme zu dir und bringe Mittagessen mit.“
Allein der Gedanke daran war zu viel. Ihre Mutter würde hier im Apartment sitzen und es insgeheim die ganze Zeit über kritisch mit Jays Luxuswohnung vergleichen. Selbst wenn Anne kein Wort darüber verlor, würde ihre Miene genug sagen. „Nein, nicht nötig. Ich bin gegen elf da, wenn dir das passt. Dann können wir erst noch Kaffee trinken.“
„In Ordnung“, stimmte ihre Mutter nach kurzem Zögern zu.
Zwei Minuten später klingelte Miriams Handy. Sie hatte gerade aufgelegt, nachdem sie ihrem Chef mitgeteilt hatte, sie brauche noch einen freien Tag. Ihr Gewissen hatte sie veranlasst, zu gestehen, sie sei nicht krank, sondern habe „private Probleme“. Er könne die beiden Tage gern von ihrem Urlaubsanspruch abziehen. Sie solle nicht so albern sein, hatte er mitfühlend erwidert und ihr alles Gute gewünscht.
„Miriam?“ Die Stimme ihrer Mutter klang angespannt. „Ich muss fragen. Du besuchst mich doch nicht etwa, um mir beizubringen, dass du schwer krank bist?“
Ach je, dachte Miriam reumütig. „Nein, nein.“
„Großes Ehrenwort?“
„Ich schwöre es. Wir sehen uns um elf.“
Ihre Mutter und George hatten sich nach ihrer Heirat einen kleinen Bungalow am nördlichen Stadtrand von London gekauft. Miriam nahm die U-Bahn bis zur Endstation und fuhr dann mit dem Taxi weiter. Während der Nacht waren die Streufahrzeuge unterwegs gewesen, und die meisten Hauptstraßen waren geräumt. In den ruhigen Wohngebieten lag der Schnee allerdings bis zu dreißig Zentimeter hoch. Offenbar hatten sich in der Straße, in der Anne und George wohnten, die Nachbarn zusammengetan. Der Taxifahrer konnte fast bis vor die Haustür fahren.
Die aufging, noch ehe Miriam geklopft hatte. Ihre Mutter hatte wohl schon Ausschau nach ihr gehalten. Sie umarmten sich, Miriam legte den Mantel ab, und ihre Mutter zog sie in die warme Küche, wo die Kaffeemaschine gurgelte.
Sobald sie am Küchentisch saßen, beide eine Tasse Kaffee und ein Stück Obstkuchen vor sich, fragte Anne: „Was ist los?“
„Warum sollte etwas los sein?“
„Ich bin deine Mutter, mich kannst du nicht hinters Licht führen. Hat es etwas mit Jay zu tun? Ist die Scheidung eingereicht?“
„Noch nicht.“
„Was dann? Du hast dich mit Jay getroffen, stimmt’s?“
In Anbetracht dessen, was sie ihre Mutter fragen musste, war es wohl besser, mit der Sprache herauszurücken. „Mom, ich muss mit dir reden. Bitte hör für eine Weile einfach zu, ohne mich zu unterbrechen, ja?“
„Liebling, ich bin eine sehr gute Zuhörerin.“
Miriam brauchte zehn Minuten, um zu erklären, worum es ihr ging. Zu ihrem Erstaunen sagte ihre Mutter kein Wort, nicht einmal, als Miriam das Gespräch mit Jay im Hotel wiedergab.
Als sie fertig war, senkte sich Schweigen über die Küche.
„Ich hatte keine Ahnung,
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