Lass sie bluten
durchstehen. Das Studium. Die hysterischen Ausbrüche ihrer Mutter. Die Trauer über ihren Vater.
Den Verrat Stefanovics.
Sie hatte schließlich das Voruntersuchungsprotokoll. Sie saß auf den Informationen. Natalie würde herausfinden, wer ihren Vater ermordet hatte – und dafür sorgen, dass der Verantwortliche dafür büßte.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Man sah ihr an, dass sie geweint hatte. Sie nahm ihre Handtasche hoch.
Sie musste an den Sommer zurückdenken. Es war, als könnte Viktor mit Natalies Gefühlen nach dem Tod ihres Vaters nicht umgehen. Sie wollte gerne zu Hause bleiben – er wollte ausgehen, Kaffee oder Bier trinken gehen und Party machen. Sie wollte gerne eine DVD oder Fernsehen gucken – er wollte lieber zu Kampfsportevents, VIP -Partys oder ins Fitnessstudio gehen. Sie hatten noch nie besonders viele gemeinsame Interessen gehabt, aber in den Wochen nach dem Mord wurde es überdeutlich.
Wenn sie nicht in Gedanken in der Vergangenheit bei ihrem Vater war, dann war sie gedanklich in der gegenwärtigen Welt ihres Vaters. Sie redete mehrere Male in der Woche mit Goran. Sie gingen in regelmäßigen Abständen spazieren, in der Stadt oder draußen bei Natalie in Näsbypark. Sie teilten die Arbeit unter sich auf. Sie diskutierten über Stefanovics verändertes Auftreten. Über Milorads und Patriks Einstellung. Über Thomas’ Loyalität. Sie analysierten die Informationen. Befassten sich immer wieder mit neuen Fragestellungen. Zum Beispiel, dass sie Kontrolle über die Buchführung ihres Vaters erlangen müssten. Wie lange das Geld reichen würde.
Sie ließen Thomas in die Dachwohnung einbrechen – sie war ausgeräumt. Irgendwer hatte alle Möbel rausgetragen, Bücherregale abgeschraubt, den Jacuzzi entfernt, sogar die Mischbatterien von Dusche und Waschbecken mitgenommen. Natalie musste ihren Anwalt unbedingt fragen, wer eigentlich das Recht besaß, die Wohnung zu verkaufen. Formell gesehen war lediglich ein Strohmann als Eigentümer eingetragen. Der Anwalt bedauerte, ihr sagen zu müssen, dass die Wohnung bereits verkauft war – bald schon würde ein neuer Käufer Zutritt bekommen. Wer die Kaufsumme eigentlich erhalten hatte, wusste keiner, und den Strohmann konnten sie auch nicht erreichen.
Aber es gab gewisse Lichtblicke, Hinweise. Die Polizei hatte unter anderem die Filme in den Überwachungskameras bei ihnen zu Hause beschlagnahmt. Nach dem Attentat auf ihren Vater im Parkhaus hatte Stefanovic ja viele installiert – alle Filme wurden achtundvierzig Stunden lang gespeichert. Goran bat Thomas, sich um die Filme zu kümmern.
Erneut: dank des Drohbriefes an die verdammten Polizisten.
Thomas analysierte das Material. Natalie hatte eigentlich erwartet, einen gedungenen Mörder mit einem Gewehr in den Händen zwischen den Büschen herumschleichen zu sehen. Stattdessen erblickte sie etwas anderes, das sie aufwühlte: Mehrere Male innerhalb dieser achtundvierzig Stunden fuhr ein grüner Volvo vorbei.
Sie machte sich selbst Vorwürfe. Erinnerte sich erst wieder daran, als sie die Filme anschaute: Sie hatte den grünen Volvo vor dem Attentat im Parkhaus gesehen. Hatte sie ihn nicht auch einmal vor ihrem Haus gesehen? Sie hätte wachsamer sein sollen, dann hätte sie ihren Vater warnen und ihn darauf hinweisen können, dass offenbar noch immer jemand hinter ihm her war.
Thomas beschattete kontinuierlich die Männer, mit denen sich Melissa Cherkasova in diversen Hotels traf. Natalie hatte selbst einige Male in ihrem Wagen vor der Wohnung der Weißrussin gesessen. Hatte sich in einem Block notiert, wann sie kam und ging. Hatte sie so gut es ging verfolgt.
Thomas hatte noch mehr über das Mädel in Erfahrung gebracht. Dank seiner ehemaligen Polizeikollegen. Melissa Cherkasova besaß eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Schweden. Sie war seit sechs Monaten mit einem fünfzigjährigen Schweden verheiratet; auf diese Art und Weise war sie offenbar ins Land gekommen. Sie war nicht vorbestraft, aber vor vier Jahren wegen Betrugs angeklagt worden. Thomas forderte das Urteil an – offenbar hatte Cherkasova sich Zugriff auf die Personen- und Kreditkartennummern zweier schwedischer Männer verschafft und daraufhin mit ihrem Geld Flugtickets nach Weißrussland und Frankreich gebucht. Das Interessante daran: Keiner der Betrogenen hatte sie verklagt; der Betrug wurde vom Kreditkartenunternehmen aufgedeckt. Als der Prozess stattfinden sollte, erschienen sie nicht einmal vor Gericht –
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