Lass sie bluten
Dieser Mann ist nicht irgendeiner. Er ist seit vielen Jahren Politiker, sitzt im Reichstag, in diversen Ausschüssen und dergleichen.«
»Oh, verdammt.«
»Das hier ist ein Mann mit Macht. Diesen geilen Bock werde ich mir mal etwas näher zu Gemüte führen.«
Natalie stand auf. Betrachtete ihr Gesicht im Spiegel auf der Universitätstoilette. Sie war jetzt seit zwanzig Minuten da drinnen. Lollo und Tove fragten sich bestimmt, wo sie geblieben war. Sie war fertig geschminkt. Die Spuren ihrer Tränen überdeckt. Ihr Äußeres war wieder angemessen hergestellt.
Sie öffnete die Tür. Die Regale hier waren mit Büchern über das Römische Reich gefüllt. Aufstieg und Fall des Kranjic-Imperiums.
Nein, ihre Familie erlebte keinen Fall: Sie hatte schließlich Goran. Sie hatte Thomas.
Natalie ging zurück zu ihrem Tisch in der Bibliothek. Die Mädels saßen noch dort. Mit exakt denselben Büchern, in derselben Position, die Köpfe im selben Winkel gehalten wie zuvor. Lollo schaute auf.
»Wo bist du denn gewesen?«
»Mir ging’s nicht so gut.«
»Oh. Sag, wenn du über irgendwas reden willst, Süße, ja?«
»Ist schon okay. Danke.«
»Sollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen? Mir sind die Rechtsfälle jedenfalls schon ziemlich zu Kopfe gestiegen. Sie zerstören mir noch meine neue Dauerwelle. Übrigens, gefällt sie dir?«
Sie gingen hinunter zum Trean, dem Café, das im dritten der Universitätstürme lag. Die Treppe in der Mitte der Bibliothek: eine Art Laufsteg vor den Augen der armen Philosophen, Ideenhistoriker und Sprachwissenschaftler, die niemals Bräute wie Natalie, Tove und Lollo abkriegen würden. Natalie spürte ihr Handy in der Handtasche vibrieren. Es war Skype.
Sie entschuldigte sich. Ging ein paar Meter zur Seite. Sah, wie Tove und Lollo ihr merkwürdige Blicke zuwarfen. Sie steckte sich einen Stöpsel ins Ohr. Sah Thomas’ Gesicht. Sie flüsterte, als sie sich meldete.
»Ich bin’s«, sagte sie.
»Ich sehe es.«
»Erneut ein Durchbruch. Ein richtiger
Durchbruch
.«
Natalie hielt die Luft an. Es waren drei Wochen vergangen, seit er den Freier-Politiker identifiziert hatte. Dieses Gespräch kam ihr ganz ähnlich vor wie das von damals.
Thomas sagte: »Ich hab Leute auf Svelander angesetzt. Die ihn mit dem Wagen bis in die Stadt hinein verfolgten. Diesmal kein Treffen im Hotel oder so. Er fuhr zu Gondolen, du weißt schon, dem Luxuslokal bei Slussen. Klingelt es bei dir?«
Natalie kannte das Restaurant natürlich. Sie war mehrere Male mit ihrer Mutter und ihrem Vater dort gewesen.
»Ich bin schon dort gewesen.«
»Hab ich mir gedacht. Denn dein Vater hat ja schon viele Leute dort hingeführt. Aber dieser Politiker ging in ein Chambre séparée. Ich hab nicht gesehen, mit wem er gemeinsam gegessen hat. Aber ich habe ein paar Minuten, nachdem Svelander ging, einen guten alten Freund aus dem Restaurant kommen sehen.«
»Und wen?« Natalie hatte ein Déja-vu-Gefühl. Dasselbe Feeling wie vor drei Wochen, als Thomas den Freier beschattet hatte.
»Stefan Rudjman. Stefanovic.«
»Verdammt.«
»Dazu kommt, dass ich gesehen habe, wie Stefanovic einem Johan Westlund alias » JW « einen Umschlag überreicht hat. Weißt du, wer das ist?«
»Nein.«
»Wen auch immer man fragt, er ist nicht gerade ein anerkannter Typ. Er ist gerade aus der Anstalt entlassen worden, war wegen schweren Drogenvergehens verurteilt. Aber wenn du zum Beispiel Goran fragst, der weiß bedeutend mehr über JW . Er ist bekannt als Geldwäscher, Ratgeber und Deponierer in Finanzbereichen, die sich vom dunkelgrauen bis hin zum rabenschwarzen Teil des Spektrums erstrecken. Er arbeitet mit Mischa Bladman zusammen, dem die MB Redovisningskonsult gehört. Verstehst du?«
»Ja.«
»Sie waren diejenigen, die deinem Vater die Sache mit der Holding und dem Konto in der Schweiz arrangiert haben.«
Natalie ging nicht mit den Mädels Kaffee trinken. Sie ging stattdessen nach draußen.
Atmete die angenehme Septemberluft ein. An ihr vorbei strömten Studenten hinein und heraus. Sie stand still da.
Es fühlte sich an, als erfasse eine Welle ihren Körper. Goran hatte gesagt, dass sie ihren eigenen Weg gehen müsse – jetzt war sie an einem Wendepunkt angelangt. Sie konnte weiter Jura pauken, sich mit den Mädels treffen, um ihren Vater trauern und im Hinblick auf seinen Mord im Trüben fischen. So tun, als sei das Leben genauso wie vorher.
Oder sie konnte etwas Wichtiges tun. Selbst aktiv werden. Ihre Trauer in etwas
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