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Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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weiß.«
    Sie saßen eine Weile schweigend da. Betrachteten das künstliche Lachen von Eva Longoria.
    Schließlich wandte sich ihre Mutter ihr zu. Ihr Blick war nicht länger abwesend.
    »Du musst auch manchmal versuchen, ihn loszulassen.«
    »Vielleicht. Aber es gibt mir auch Kraft, an ihn zu denken.«
    »Ich finde, du bist naiv. Du siehst nur das, was du sehen willst.«
    Natalie kapierte nicht, wovon ihre Mutter redete. Sie entgegnete: »Hör doch auf.«
    »Nein. Jetzt hörst du mir mal zu.«
    Natalie stand auf, machte ein paar Schritte rückwärts und verließ das Fernsehzimmer. Sie hatte jetzt wirklich keine Lust, sich mit ihr zu streiten.
    Aber es war bereits zu spät. Ihre Mutter explodierte förmlich.
    »Du kriegst wirklich nicht gerade viel mit. Du hast deinen Vater wie einen Gott verehrt. Aber glaubst du wirklich, dass er ein Gott war?«
    Natalie hielt inne.
    Ihre Mutter erhob ihre Stimme. »Was glaubst du eigentlich, wie es mir ergangen ist? Immer wie eine verdammte Trophäe betrachtet zu werden. Erst als Frau, die Kinder gebiert. Und dann wie ein Babysitter. Ich musste mir immer zusammenreimen, was Papa gerade machte. Dass ich nicht die Einzige war. Weißt du, was er alles gemacht hat? Weißt du, was für ein Mensch er war? Ja? Antworte mir!«
    Natalie starrte sie an. Sie hatten sich früher oft gestritten. Als sie irgendwann einmal vier Stunden zu spät gekommen war, weil sie gemeinsam mit Lollo zu einer nächtlichen Party eingeladen war, als ihre Mutter Rizla-Papier und ein Redline-Tütchen in ihrer Jackentasche gefunden hatte, das Erbrochene in der Toilette gerochen hatte, nach einem Wochenende in Paris in der siebten Klasse feststellte, dass sie mehr als zehntausend Euro mit der Kreditkarte ihres Vaters abgehoben hatte. Aber all diese Auseinandersetzungen lagen weit zurück. In den vergangenen Jahren waren Natalie und ihre Mutter wie Freundinnen miteinander umgegangen. Wie Frauen, die sich regelmäßig trafen, gemeinsam Kaffee tranken, sich Filme anschauten und über Jungs, Bekannte und Kleidung sprachen. Nicht einmal damals, als sie Streit miteinander hatten, hatte Natalie so etwas aus ihrem Mund gehört. Es war total krank. Es war ätzend.
    Ihre Mutter schrie es jetzt förmlich heraus. Eine Menge blödes Zeugs über ihren Vater – was für ein Bluff er gewesen war, wie er sie oftmals verhöhnt und einfach ignoriert hatte. Sie weinte nicht, aber es war, als ob ihre Augen regelrecht vor Verzweiflung glühten. Sie hatte jegliche Kontrolle über sich verloren. Sie war absolut hysterisch.
    »Ich war einundzwanzig, als du geboren wurdest. Kapierst du das? Würdest du jetzt gerne Mutter werden, ja?«
    Natalie versuchte sie zum Schweigen zu bringen. »Beruhig dich doch, Mama.«
    Doch es funktionierte nicht.
    »Du willst einfach nicht sehen, wer er war. Du bist naiv. Dumm und naiv.«
    Ihre Mutter spuckte es förmlich aus. »Dein Vater war kein Mensch. Er war ein Tier.«
    Das war genug. Natalie lief in den Flur hinaus. Rief mit lauter Stimme ins Fernsehzimmer hinein: »Jetzt hältst du die Klappe. Wenn du noch ein Wort über Papa verlierst, schmeiß ich dich raus.«
     
    Zurück in der Universität. Die Grundlagen des Zivilrechts.
Pacta sunt servanda
. Verträge sind einzuhalten. Allianzen sind zu wahren. Die Ehre darf nicht mit Füßen getreten werden. Familien dürfen nicht auseinandergerissen werden. Freundschaftsbande sollen gestärkt werden. Menschen, von denen man Loyalität erwarten kann, sollen loyal bleiben.
    Scheiße auch.
    Natalie stand auf. Louise und Tove saßen auf ihren Plätzen – schauten ihr nach, als sie zur Toilette ging.
    In ihrem Kopf drehte sich alles. Alle Studententussis um sie herum saßen über ihre Bücher gebeugt. Versuchten sich wichtigzutun. Was sollte das Ganze eigentlich? Alle spielten doch dasselbe Spielchen – dass sie ihr Leben im Griff hatten. Sie waren total verwöhnt. Sie wussten nichts über die Realität. Sie waren Prinzessinnen, die sich noch niemals die Hände schmutzig gemacht hatten.
    Der Fußboden in der Bibliothek war mit Teppichboden ausgelegt. Sie öffnete die Toilettentür. Hörte dort drinnen auf dem gekachelten Boden das Klappern ihrer Absätze.
    Sie setzte sich auf die Toilette. Stellte ihre Handtasche ab. Schlang die Arme um ihren Oberkörper. Die Panik kam stoßweise.
    Sie beugte sich vornüber.
     
    Zehn Minuten später – der Fußboden glänzte von all ihren Tränen. Sie stand auf. Fühlte sich etwas besser. Sie würde es schon irgendwie

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